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Aufhebung des rechtsfehlerfreien Schuldspruchs bei Verständigung

Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urt. v. 23.11.20225 StR 347/22

I. Sachverhalt

Aufhebung auch des Schuldspruchs nach Verständigung

Der Angeklagte hat im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO ein Geständnis abgelegt. Das LG hat im Urteil eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten angenommen. Auf die Revision der StA hat der BGH nicht nur den Strafausspruch wegen Rechtsfehlern bei der Anwendung des § 21 StGB aufgehoben, sondern das gesamte Urteil.

II. Entscheidung

An sich keine Bindung des neuen Tatgerichts

Nach § 353 Abs. 1 StPO sei ein angefochtenes Urteil zwar nur insoweit aufzuheben, als die Revision für begründet erachtet wird. Gemessen daran wäre lediglich der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und der von dem Rechtsfehler nicht betroffene Schuldspruch würde in Rechtskraft erwachsen. Hier sei es anders (s. Leitsatz). Die Bindungswirkung einer Verständigung gelte nach § 257c StPO nur für das Gericht, das die der Verständigung zugrunde liegende Prognose abgegeben hat; das nach Zurückverweisung zuständige (neue) Tatgericht sei nach dem Willen des Gesetzgebers nicht an die Verständigung gebunden (vgl. BT-Drucks 16/12310, S. 15). Dies finde seine Rechtfertigung darin, dass andernfalls Richter, die an einer Verständigung nicht beteiligt waren und eine solche mit dem Inhalt auch nicht getroffen hätten, bei ihrem Urteilsspruch gebunden werden könnten. Es entspreche daher der Rechtsprechung des BGH, dass nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht das neue Tatgericht nicht an die in der Vorinstanz getroffene Verständigung gebunden ist (BGH NStZ 2017, 373, 374 = StRR 5/2017, 12 [Deutscher]; StV 2022, 291, 292; BGHSt 66, 37 = StRR 9/2021, 11 [Deutscher]).

In dieser Konstellation kein tragfähiges Ergebnis

Die bloße Anwendung von § 353 StPO auf einen solchen Fall würde zu einem nicht tragfähigen Ergebnis führen: Der Schuldspruch würde rechtskräftig, der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Das Verschlechterungsverbot (§§ 331, 358 Abs. 2 StPO) gälte nicht, weil die StA die Revision zuungunsten des Angeklagten eingelegt hatte. Das neue Tatgericht wäre nicht an die in der Vorinstanz zustande gekommene Verständigung gebunden und könnte gegen den Angeklagten deshalb eine Strafe verhängen, die über die im ersten Rechtsgang zugesagte Strafobergrenze hinausginge. Der Gesetzgeber habe der Geltung dieses Grundsatzes mit der Regelung des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO für das Verständigungsverfahren ausdrücklich Rechnung getragen (BT-Drucks 16/12310, S. 14). Danach dürfe ein im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis nicht verwertet werden, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt. Zwar sei das gesetzliche Verwertungsverbot in einer Konstellation wie der hier gegebenen nicht unmittelbar anwendbar. Die Geltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens beschränke sich im Zusammenhang mit Verständigungen i.S.d. § 257c StPO jedoch nicht auf die der Regelung des § 257c Abs. 4 StPO zugrunde liegende Konstellation. Vielmehr habe der Gesetzgeber mit der Normierung des Verwertungsverbots dem Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens allgemein „Rechnung getragen“ (BT-Drucks 16/12310, S. 14); dieser Grundsatz stelle ein dem gesamten Strafverfahren und mithin auch dem gesamten Verständigungsverfahren übergeordnetes Leitprinzip dar.

Parallelen

Davon ausgehend sei die obergerichtliche Rechtsprechung überwiegend der Auffassung, dass ein in der ersten Instanz im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis unverwertbar ist, wenn sich das Berufungsgericht von einer in der ersten Instanz erzielten Verständigung lösen will (OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295; OLG Naumburg NStZ 2018, 238, 239). Die Beschränkung eines zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der StA auf den Strafausspruch werde dann für unwirksam erachtet (OLG Naumburg a.a.O.). Der BGH habe sich aus den gleichen Gründen für ein Verbot der Verwertung des im Hinblick auf eine Verständigung in der ersten Instanz abgegebenen Geständnisses ausgesprochen, wenn das Urteil auf eine Revision der StA aufgehoben wird und das nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufene Tatgericht sich nicht von sich aus an die vom Erstgericht zugesagte Strafobergrenze binden will (BGH NStZ 2017, 373, 374 = StRR 5/2017, 12 [Deutscher]; StV 2022, 291, 292; BGHSt 66, 37 = StRR 9/2021, 11 [Deutscher]); abweichend BGH NStZ-RR 2013, 373).

Abweichung von § 353 Abs. 1 StPO

Diesen dem Gebot eines fairen Verfahrens geschuldeten Grundsätzen könne das Revisionsgericht unter den hier gegebenen Umständen nur dadurch gerecht werden, dass es abweichend von § 353 Abs. 1 StPO nicht nur den Strafausspruch, sondern auch den Schuldspruch aufhebt und die Sache insgesamt zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverweist. Nur so könne das schützenswerte Vertrauen des Angeklagten in das Gegenseitigkeitsverhältnis seines Geständnisses und der zugesagten Strafobergrenze einerseits mit dem Umstand der fehlenden Bindungswirkung des neuen Tatgerichts an die Verständigung andererseits in Einklang gebracht werden. Denn hätte das neue Tatgericht lediglich noch über den Strafausspruch zu entscheiden, könnte es mangels Bindung an die erstinstanzliche Verständigung über die zugesagte Strafobergrenze hinausgehen, obwohl das im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebene Geständnis des Angeklagten infolge der Rechtskraft des Schuldspruchs faktisch die Grundlage für diese Entscheidung bilden würde. Dies wäre aber ebenso wie in den vorgenannten Konstellationen nicht mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Das in der ersten Hauptverhandlung abgelegte Geständnis des Angeklagten dürfe verwertet werden, wenn das neue Tatgericht den Rahmen der in der ersten Instanz getroffenen Verständigung nicht verlässt, also insbesondere die Strafobergrenze nicht überschreiten will (BGH StV 2022, 291, 292). Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass der zugesagte Strafrahmen nach dem Inbegriff der neuen Verhandlung mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist (BGHSt 57, 273, 280 = StRR 2012, 373 [Burhoff]).

III. Bedeutung für die Praxis

Überzeugend

In diesem für BGHSt vorgesehenen Urteil hebt der 5. Senat abweichend vom Wortlaut des § 353 Abs. 1 StPO auch den an sich rechtsfehlerfrei entstandenen Schuldspruch auf, da dieser auf einer Verständigung und damit einem Geständnis des Angeklagten beruht, obwohl an sich nur der Strafausspruch auf die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der StA aufzuheben war. Es handelt sich um eine weitere wichtige Entscheidung des BGH zu den Auswirkungen der Verständigung im Strafverfahren (Rechtsprechungsübersicht bei Deutscher, StRR 5/2021, 5 und 6/2021, 5). Wenngleich dieser Ansatz über den Wortlaut des § 353 Abs. 1 StPO („soweit“) hinausgeht, sind die Ausführungen des BGH angesichts des gesetzgeberischen Konzepts der Verständigungsnormen und des Grundsatzes des fairen Verfahrens überzeugend.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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