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Rechtsprechungsübersicht zu § 64 StGB

Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB hat die Rechtsprechung, insbesondere den BGH, auch im nunmehr zu Ende gehenden Jahr wiederholt beschäftigt. Die nachfolgenden Ausführungen stellen einige der wichtigsten Entscheidungen vor und zeigen deren Bedeutung für die Praxis auf.

I.

Verfahrensrechtliches

1. § 246a StPO verpflichtet das Gericht, in der Hauptverhandlung einen Sachverständigen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen, wenn es erwägt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anzuordnen. Diese Pflicht greift nicht erst ein, wenn das Gericht aufgrund der bislang im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse bereits gewillt ist, die Unterbringung anzuordnen, sondern vielmehr schon dann, wenn die Anordnung nach den Umständen des Einzelfalls in Betracht kommt (vgl. BGH, Beschl. v. 1.12.2021 – 1 StR 432/21). Hierfür kann es bereits genügen, wenn der Angeklagte regelmäßig Cannabis konsumiert (BGH, Beschl. v. 26.1.2022 – 1 StR 1/22).

Abweichungen von diesem Grundsatz hat der BGH bislang nur selten zugelassen, etwa wenn das Tatgericht die Maßregelanordnung allein in Ausübung seines Ermessens (zu möglichen Ermessenserwägungen Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 64, Rn 23 f.) nicht treffen will und die Entscheidung insoweit von den Ergebnissen des Sachverständigengutachtens unabhängig ist (BGH a.a.O. u. Beschl. v. 26.7.2017 – 3 StR 182/17).

a) Für einiges Aufsehen hat deshalb der Beschluss des 6. Strafsenats vom 23.3.2022 (6 StR 63/22 = StRR 9/2022, 14 m. Anm. Burhoff) gesorgt, wonach das Tatgericht über die bisherige Rechtsprechung hinaus auch dann von der Begutachtung absehen darf, wenn es eine grundsätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht in Erwägung zieht, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen zumindest einer der Anordnungsvoraussetzungen auf der Hand liegt. Dies gelte nicht nur für die Fälle offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht, sondern auch für Konstellationen eines evident fehlenden bzw. nicht mehr vorhandenen Hangs (BGH a.a.O.).

Mit dieser Entscheidung hat manch Tatrichter einige Hoffnungen verbunden, versprach man sich doch ein wirksames Mittel insbesondere gegen Anträge auf Begutachtung des Angeklagten, die erst zu einem relativ späten Zeitpunkt in der Hauptverhandlung gestellt werden und wegen der dann kurzfristig erforderlich werdenden Hinzuziehung eines Sachverständigen zu einer Verfahrensverlängerung führen können. Über solche Anträge und die damit einhergehenden Verzögerungen käme man, so die Hoffnung, relativ leicht hinweg, wenn man eine der Anordnungsvoraussetzungen für offensichtlich nicht gegeben erklärt.

Bei näherer Betrachtung hat sich diese Hoffnung jedoch nicht erfüllt. Denn der BGH hat die Hürden für ein Absehen von der Hinzuziehung eines Sachverständigen recht hoch gelegt. So darf von einem offensichtlich fehlenden bzw. nicht mehr gegebenen Hang des Angeklagten nur dann ausgegangen werden, wenn die stabile Abstinenz hinreichend belegt ist. Bloße Anhaltspunkte genügen insoweit nicht, vielmehr bedarf es der sicheren Überzeugung des Gerichts, dass der Angeklagte unter dem Eindruck des Strafverfahrens den Drogenkonsum vollständig eingestellt hat und nach längerem Zeitablauf weiterhin abstinent lebt. Erst dann bedürfe es keiner Hilfe durch einen Sachverständigen mehr (BGH a.a.O.).

Das Bilden einer solchen sicheren Überzeugung ist für den Tatrichter nicht leicht. Er darf nämlich, dies hat der Senat ausdrücklich betont, nicht ohne weitere Überprüfung nur die eigenen Angaben des seine Abstinenz beteuernden Angeklagten zugrunde legen, sondern muss weitere Prüfungsschritte anstellen wie z.B. Haarproben (BGH a.a.O.).

Der Aufwand für derartige Untersuchungen zum Konsumverhalten des Angeklagten bzw. zu der von ihm geltend gemachten Abstinenz kann recht hoch sein, sodass sich für das Gericht die Frage stellt, ob es im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Verfahrens, insbesondere dessen Dauer, nicht doch besser fährt, wenn es einen Sachverständigen beauftragt, anstatt zeitaufwendige Nachermittlungen zum Konsumverhalten des Angeklagten anzustellen (sofern diese im Einzelfall überhaupt möglich sind).

Darüber hinaus besteht für den Tatrichter, wenn er eine der Anordnungsvoraussetzungen des § 64 StGB als offensichtlich (!) nicht gegeben verneint, immer auch die Gefahr, dass das Revisionsgericht seine diesbezügliche Einschätzung nicht teilt, sondern an der einen oder anderen Stelle noch weitere Ermittlungsansätze sieht.

Angesichts dieser Umstände sollte sich die Verteidigung, wenn ihr für den Fall einer – aus Sicht des Gerichts – zu späten Stellung des Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu den Unterbringungsvoraussetzungen unter Hinweis auf die vorgenannte Entscheidung des BGH mit Antragsablehnung gedroht wird, nicht unter Druck setzen lassen.

b) Vielmehr wird es in den meisten Fällen bei dem Grundsatz bleiben, dass es der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf. Allerdings soll das nach einer Entscheidung des OLG Saarbrücken noch nicht der Fall sein, wenn gegen den Angeklagten der Verdacht auf Handeltreiben mit Betäubungsmitteln besteht und zudem Hinweise auf deren Konsum vorliegen, jedenfalls wenn der Angeklagte gegenüber den Strafverfolgungsbehörden schweigt (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 6.7.2022 – 4 Ws 201/22). Es gebe keinen Erfahrungssatz, wonach Personen, die mit Betäubungsmitteln Handel treiben, diese auch immer wieder im Sinne einer eingewurzelten intensiven Neigung in einem Umfang konsumieren, durch den Gesundheit und Leistungsfähigkeit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt werden.

Die Ansicht des Senats erscheint jedoch nicht unbedenklich. Zum einen ist die Entscheidung schwerlich mit der Rechtsprechung des BGH, der erhebliche Beeinträchtigungen von Gesundheit und Leistungsfähigkeit für die Annahme eines Hangs regelmäßig gerade nicht verlangt (s.u.), vereinbar und zum anderen handelt es sich gerade in Fällen klassischer Betäubungsmittelkriminalität, zumal in Kombination mit Hinweisen auf Eigenkonsum, um eine jener Konstellationen, in der die Gerichte nach der dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung gehalten sind, eine Unterbringung besonders sorgfältig zu prüfen, und zwar ausdrücklich unter Hinzuziehung eines Sachverständigen.

So hat es der BGH bereits beim Auffinden noch überschaubarer Mengen von Betäubungsmitteln (knapp 3 g Kokaingemisch und 30 g Cannabisblüten) und einem lediglich „szenetypischen“ Konsum des Angeklagten in der Techno-Szene beanstandet, dass von der Hinzuziehung eines Sachverständigen abgesehen wurde (BGH, Beschl. v. 2.8.2022 – 5 StR 15/22).

Hinzu kommt, dass es sich nicht um eine Revisionsentscheidung handelt, sondern um einen Beschluss, der auf eine (erfolglose) Haftbeschwerde des Angeklagten hin ergangen ist. Der Senat hat hier einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verneint, da sich der bis dahin schweigende Angeklagte erst zu einem späteren Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu seinem Suchtmittelkonsum geäußert hat. Dem wird man gewiss zustimmen können; ein Absehen von der Hinzuziehung eines Sachverständigen, allein weil der Angeklagte sich schweigend verteidigt, erscheint jedoch nicht sachgerecht und birgt für den Bestand des Urteils in der Revision erhebliche Gefahren.

2. Wird ein Sachverständiger hinzugezogen, muss das Tatgericht dessen Ausführungen sowie die dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Urteil so darlegen, dass das Revisionsgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind. Dies ist eigentlich selbstverständlich, dennoch kommt es in der Praxis an dieser Stelle immer wieder zu Fehlern. Der BGH musste deshalb auch 2022 erneut an die Darlegungsanforderungen erinnern: Fehlen im Urteil Ausführungen zur Suchtgeschichte des Angeklagten und zu früheren Therapieversuchen, unterliegt es der Aufhebung (BGH, Beschl. v. 22.2.2022 – 6 StR 553/21). Zudem muss auch die voraussichtliche Dauer des Maßregelvollzugs festgestellt werden (BGH, Beschl. v. 31.8.2022 – 4 StR 235/22).

II.

Hang

Für den vom BGH (Beschl. v. 8.2.2022 – 6 StR 11/22) weiterhin als eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, definierten Hang ist zunächst zu beachten, dass dieser, wie die übrigen Anordnungsvoraussetzungen auch, zur Überzeugung des Tatgerichts sicher feststehen muss (BGH, Beschl. v. 23.2.2022 – 6 StR 650/21). Es gibt mithin keinen Grundsatz „in dubio pro Unterbringung“.

Die Verteidigung muss deshalb Urteile, in denen die Maßregel nicht angestrebt, aber dennoch verhängt wurde, immer auf Formulierungen prüfen, die nahelegen, dass sich das Gericht dessen nicht bewusst war. Hierauf kann es etwa hindeuten, wenn das Gericht ausführt, beim Angeklagten sei ein Hang i.S.d. § 64 StGB „nicht ausschließbar“ oder dass die Tat „möglicherweise“ auf die Suchterkrankung zurückgehe (vgl. BGH, Beschl. v. 18.12.2019 – 2 StR 331/19).

Der Begriff des Hangs wird vom BGH weiterhin weit ausgelegt, was dann auch zu den stark gestiegenen Unterbringungszahlen sowie zu der aktuell geführten Debatte über eine Reform des § 64 StGB einschließlich einer gesetzlichen Neudefinition des Hangs geführt hat. Zahlreiche Urteilsaufhebungen sind darauf zurückzuführen, dass die Tatgerichte den weiten Hangbegriff des BGH verkannt haben.

Zudem kommt es immer wieder zu widersprüchlichen Ausführungen, etwa wenn einerseits ein Hang verneint, dann aber, offensichtlich im Hinblick auf eine vom Angeklagten anstelle der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angestrebte Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG, festgestellt wird, die Tat sei aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden. Derartiges ist mit dem vom BGH eisern verteidigten Vorrang des § 64 StGB gegenüber § 35 BtMG nicht vereinbar (BGH, Beschl. v. 19.7.2022 – 4 StR 116/22).

Aufgrund dieses Vorrangs kann auch nicht von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt zugunsten einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG abgesehen werden, weil die voraussichtliche Dauer der Unterbringung die Höhe der Begleitstrafe übersteigen würde (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2022 – 2 StR 11/22), wobei freilich bei einem ausgeprägten „Missverhältnis“ zwischen Strafhöhe und Unterbringungsdauer die Erfolgsaussichten der Maßregel besonders sorgfältig zu prüfen sind, dürften sich Verurteilte doch in aller Regel schwerlich für eine Maßnahme motivieren lassen, die selbst gegenüber einer vollständigen Verbüßung ihrer Haftstrafe mit einem sehr viel längeren Freiheitsentzug verbunden wäre.

Zu beachten ist zudem, dass die Unterbringung selbst rückstellungsfähig ist (§ 35 Abs. 1 BtMG). Im Vollstreckungsverfahren gilt der Grundsatz vom Vorrang des § 64 StGB nicht mehr (BayObLG, Beschl. v. 25.8.2021 – 203 VAs 274/21).

Bei der Auslegung des Hang-Begriffs ist zunächst zu beachten, dass die Neigung des Angeklagten zum Rauschmittelkonsum noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (BGH, Beschl. v. 23.2.2022 – 6 StR 15/22 m.w.N.). Vielmehr genügt es, wenn der Angeklagte aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint, was bei Drogenkonsumenten insbesondere im Bereich der Beschaffungskriminalität in Betracht kommt (BGH, Beschl. v. 26.1.2022 – 1 StR 1/22). Dementsprechend setzt die Annahme eines Hangs nicht voraus, dass es beim Angeklagten, beispielsweise nach seiner Festnahme, zu ausgeprägten Entzugserscheinungen kommt (BGH, Beschl. v. 1.12.2021 – 1 StR 432/21). Auch ist es nicht erforderlich, dass der Angeklagte Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass dadurch seine Gesundheit sowie seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt werden.

Hier werden oft die Maßstäbe verkannt: Derartige Beeinträchtigungen sind nicht generell irrelevant, sondern können für das Vorliegen eines Hangs durchaus von (indizieller) Bedeutung sein. Ihr Fehlen schließt aber nach gefestigter Rechtsprechung des BGH umgekehrt den Hang nicht aus (BGH, Beschl. v. 23.2.2022 – 6 StR 15/22). Hangtäter kann also auch sein, wer ein nach außen geordnet erscheinendes Leben führt und noch in der Lage war, seinen beruflichen Pflichten nachzukommen (BGH, Beschl. v. 26.1.2022 – 1 StR 1/22 für einen Angeklagten, der trotz täglichen Drogenkonsums beanstandungsfrei als Sportlehrer und Fitnesstrainer arbeitete).

Gleiches gilt in Fällen, in denen der Angeklagte noch in der Lage ist, seinen Rauschmittelkonsum zu steuern oder phasenweise abstinent zu leben (BGH a.a.O. u. Beschl. v. 8.8.2022 – 5 StR 75/22), und auch ein Einsatz von Betäubungsmitteln zum Zwecke der „Selbstmedikation“ steht der Annahme eines Hangs nicht entgegen (BGH, Beschl. v. 8.2.2022 – 6 StR 11/22).

III.

Symptomatischer Zusammenhang

Des Weiteren setzt die Anordnung der Unterbringung einen symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Hang des Angeklagten und der von ihm begangenen Tat voraus. Ein solcher Zusammenhang kommt insbesondere bei Rauschgiftdelikten und Beschaffungstaten in Betracht, es sei denn, die Taten dienen allein zur Finanzierung des allgemeinen Lebensbedarfs oder zur Gewinnerzielung (BGH, Beschl. v. 18.12.2019 – 2 StR 331/19). Dies dürfte freilich eher selten der Fall sein, verfügen doch die wenigsten Angeklagten, die in erheblichem Umfang Betäubungsmittel zu sich nehmen, über legale Mittel zur Finanzierung ihres Konsums.

Allgemein ist der BGH auch bei der Prüfung des Zusammenhangs regelmäßig großzügig. So muss der Hang nicht die alleinige Ursache für die Tatbegehung sein, sondern es genügt, wenn er neben anderen Ursachen zur ihr beigetragen hat (BGH, Beschl. v. 10.2.2022 – 1 StR 396/21).

Darüber hinaus kann es für einen Hang bereits genügen, wenn der Konsum von Alkohol oder Betäubungsmitteln zu einem Absinken der Hemmschwelle für die Deliktsbegehung beiträgt. An dieser Stelle finden sich in Urteilen mitunter widersprüchliche Ausführungen, die dann in der Revision erfolgreich angegriffen werden können. So wird der symptomatische Zusammenhang mitunter u.a. mit der Begründung verneint, dass zur Tatzeit bei dem Angeklagten die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB nicht vorgelegen hätten, sondern er „alkoholbedingt enthemmt“ gewesen sei und es deshalb zu einem Absinken der Hemmschwelle für die Deliktsbegehung gekommen wäre. Dies spricht nach der Rechtsprechung des BGH jedoch nicht gegen, sondern im Gegenteil gerade für den Zusammenhang (vgl. BGH a.a.O. u. BGH, Beschl. v. 17.5.2018 – 3 StR 166/18).

Ferner muss der Hang nicht für die Begehung von Straftaten überhaupt ausschlaggebend sein, sondern es kann genügen, wenn er lediglich negativen Einfluss auf deren Qualität und Intensität hat (BGH a.a.O.). Auch bei einem Täter, der über eine infolge allgemeiner charakterlicher Mängel verfestigte kriminelle Neigung verfügt, kann ein symptomatischer Zusammenhang bestehen, wenn die hinzukommende Sucht die Begehung der Taten mit ausgelöst und die Art ihrer Begehung mitbestimmt hat (BGH, Beschl. v. 13.6.2018 – 1 StR 132/18).

Trotz dieses generell großzügigen Maßstabs darf der Hang jedoch nicht vorschnell bejaht werden, insbesondere in Fällen, die nicht eine typische Tat aus dem Bereich der Betäubungsmittel- oder Beschaffungskriminalität zum Gegenstand haben. Sind etwa einer gefährlichen Körperverletzung mit wechselseitigen Beleidigungen verbundene Streitigkeiten zwischen dem Angeklagten und dem späteren Geschädigten in sozialen Netzwerken vorausgegangen und war die beim Angeklagten festgestellte Menge konsumierter Betäubungsmittel vor der Tat sehr gering, steht dies der Annahme eines symptomatischen Zusammenhangs zwar nicht zwingend entgegen, bedarf jedoch einer eingehenden Begründung (BGH, Beschl. v. 31.8.2022 – 4 StR 235/22).

IV.

Hinreichende Erfolgsaussicht

Schließlich darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur dann angeordnet werden, wenn sich die von § 64 S. 2 StGB vorausgesetzte hinreichend konkrete Erfolgsaussicht sicher positiv feststellen lässt. Seine entsprechende Überzeugung hat das Gericht in den Urteilsgründen darzulegen (BGH, Beschl. v. 8.2.2022 – 6 StR 3/22).

Auch insoweit verfolgt der BGH regelmäßig eine eher großzügige Linie. Insbesondere steht eine mangelnde Therapiebereitschaft der Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht regelmäßig nicht entgegen, sondern es ist dann zu prüfen, ob eine Therapiebereitschaft nicht in der Unterbringung selbst geweckt werden kann (s. hierzu die Nachweise bei Fischer a.a.O., § 64 Rn 20). Allerdings kann die Erfolgsaussicht fernliegen, wenn der Angeklagte aus- und nachdrücklich eine Therapie ablehnt und zudem keinerlei Veränderungsbereitschaft zeigt (BGH, Beschl. v. 11.10.2022 – 5 StR 274/22). Dies ist allerdings nicht schon dann der Fall, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung im Hinblick auf eine Therapie bloßen Unwillen bekundet; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände (BGH a.a.O.).

Hiernach kann eine mangelnde Therapiebereitschaft der hinreichenden Erfolgsaussicht jedenfalls dann entgegenstehen, wenn auch die weiteren Ausgangsbedingungen überwiegend ungünstig sind. In Betracht kommen hier namentlich eine hohe Rückfallgeschwindigkeit, das Fehlen eines Wohnsitzes sowie eines Schul- und Berufsausbildungsabschlusses, das Nichtvorhandensein eines regulären Alltagslebens, mangelnde Integration ohne finanzielle Sicherheit oder eine vollziehbare Ausreisepflicht (BGH, Beschl. v. 29.3.2022 – 2 StR 385/21).

Erklärt der Angeklagte in der Hauptverhandlung überdies, er strebe statt einer Therapie ein Absehen von weiterer Vollstreckung gemäß § 456a StPO an, kann die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht nicht auf eine im Vorfeld der Hauptverhandlung noch erklärte Therapiebereitschaft gestützt werden, denn maßgeblicher Zeitpunkt für sanktionsrechtliche Prognoseentscheidungen ist der der tatrichterlichen Hauptverhandlung. Soll dennoch eine Unterbringung angeordnet werden, bedarf es näherer Darlegungen dazu, dass und auf welche Weise die Behandlungsmotivation im Zuge der Therapie in der Maßregeleinrichtung geweckt werden soll (BGH a.a.O.). Der bloße Hinweis auf die theoretische Möglichkeit der Herbeiführung einer Therapiebereitschaft im Maßregelvollzug genügt dann nicht. Stattdessen wird es regelmäßig in erheblichem Maße auf die Einschätzung des Sachverständigen ankommen.

Aber auch eine in der Hauptverhandlung erklärte Therapiebereitschaft genügt nicht stets für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht. Sind zahlreiche negative Faktoren vorhanden, vermag die erklärte Therapiebereitschaft allein deren Gewicht nicht aufzuwiegen (BGH, Beschl. v. 4.12.2019 – 1 StR 433/19). Zu beachten ist hierbei allerdings, dass das Scheitern früherer Therapieversuche bis hin zu Abbrüchen die Erfolgsaussicht eines neuerlichen Anlaufs für sich betrachtet nicht ausschließt (BGH, Beschl. v. 29.6.2022 – 6 StR 238/22). Anders wird man dies in Fällen sehen können, in denen der Abbruch erst vor kurzer Zeit erfolgte und seither keine Neuentwicklung ersichtlich ist, die die Erwartung rechtfertigt, der Angeklagte werde diesmal erfolgreich behandelt werden können.

V.

Vollstreckungsverfahren

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB beschäftigt die Gerichte nicht nur im Erkenntnis-, sondern regelmäßig auch im Vollstreckungsverfahren, hauptsächlich wenn es um die Frage einer Erledigterklärung nach § 67d Abs. 5 S. 1 StGB wegen nicht mehr vorhandener Erfolgsaussicht oder um eine Aussetzung des weiteren Maßregelvollzugs zur Bewährung nach § 67d Abs. 2 S. 1 StGB geht. Der Ausgang dieser Verfahren hängt oftmals maßgeblich von der Stellungnahme der behandelnden Einrichtung über den bisherigen Behandlungsverlauf ab. Diese stellen regelmäßig eine zuverlässige und zureichende Entscheidungsgrundlage dar, sodass es der Hinzuziehung externer Gutachter grundsätzlich nicht bedarf (OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.6.2020 – 4 Ws 127/20).

Die Strafvollstreckungskammer darf ihre Entscheidung jedoch nur dann auf die gutachterliche Stellungnahme der Vollzugseinrichtung stützen, wenn diese die entscheidungserheblichen Tatsachen hinreichend dargelegt und sich mit ihnen auseinandergesetzt hat. Kommt etwa die Vollzugseinrichtung zu dem Ergebnis, dass dem Verurteilten die begehrte Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung nicht gewährt werden könne, da die Legalprognose negativ sei, muss ihre Stellungnahme Ausführungen dazu enthalten, welcher Art die rechtswidrigen Taten sind, die von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz), wie hoch die Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist und inwieweit im Falle einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung Maßnahmen im Rahmen der Führungsaufsicht nach §§ 68a, 68b StGB als weniger belastende Maßnahmen ausreichen können, um den Zweck der Maßregel zu erreichen (OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.7.2022 – 4 Ws 247/22). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Therapieverlauf insgesamt durchaus positiv erscheint und der Verurteilte deutliche Fortschritte erzielt hat. Hält die Einrichtung die Legalprognose ungeachtet der – auch von ihr anerkannten – Therapieerfolge dennoch für negativ, bedarf dies der ausführlichen Erörterung (OLG Stuttgart a.a.O.).

Fehlt es hieran, darf die StVK sich bei ihrer Entscheidung nicht auf die gutachterliche Stellungnahme stützen, denn andernfalls verstößt sie gegen ihre Verpflichtung, die Annahme, wonach von dem Verurteilten weiterhin eine Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten ausgehe, hinreichend zu konkretisieren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.2.2014 – 2 BvR 1795/12).

Richter am Landgericht Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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