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„Hinausdrängen“ des Wahlanwalts

1. Legt ein Angeklagter verfristet die sofortige Beschwerde gegen die Versagung der Beiordnung seines Wahlverteidigers ein, so ist ihm ggf. von Amts wegen Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn aufgrund des Hauptverhandlungsprotokolls davon auszugehen ist, dass er nicht über das fristgebundene Rechtsmittel belehrt worden ist.

2. Hat der Pflichtverteidiger im Hinblick auf § 143a Abs. 1 S. 1 StPO nach Erscheinen eines Wahlverteidigers um seine Entpflichtung gebeten, so begründet dies keinen konsensualen Verteidigerwechsel, wenn der eintretende Wahlverteidiger den geheimen Vorbehalt hat, nach Ausscheiden des bisherigen Pflichtverteidigers seine Beiordnung zu beantragen, weil er die Verteidigung nur als Pflichtverteidiger führen will.

3. Im Falle der Beendigung des Mandats des Wahlverteidigers kommt es grundsätzlich nicht in Betracht, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Vielmehr wird regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen sein.

(Leitsätze des Gerichts)

KG, Beschl. v. 28.10.2021 – 3 Ws 276/21

I. Sachverhalt

Der Angeklagte war erstinstanzlich wegen mehrerer BtM-Delikte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. In der Berufungshauptverhandlung erschien neben seinem Pflichtverteidiger erstmals auch eine Wahlverteidigerin. Nachdem der Angeklagte erklärt hatte, nunmehr durch die Wahlverteidigerin verteidigt werden zu wollen, entpflichtete der Vorsitzende den Pflichtverteidiger. Der Pflichtverteidiger hatte zuvor aufgrund des Eintritts der Wahlverteidigerin um seine Entpflichtung gebeten.

Im Anschluss hieran beantragte die Wahlverteidigerin nunmehr ihre eigene Beiordnung. Dies lehnte der Vorsitzende ab, ohne den Angeklagten über die Möglichkeit der sofortigen Beschwerde zu belehren. Das hiergegen nach über drei Wochen eingelegte Rechtsmittel blieb ohne Erfolg.

II. Entscheidung

1. Das KG hat dem Angeklagten von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gewährt. Dies sei trotz der anwaltlichen Vertretung des Angeklagten geboten, da er nicht über das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde belehrt worden war.

2. In der Sache hatte die sofortige Beschwerde jedoch keinen Erfolg. Nach Auffassung des Senats hat der Vorsitzende die Bestellung der Wahlverteidigerin zur Pflichtverteidigung verfahrensfehlerfrei abgelehnt. Die Wahlverteidigerin habe einen Kollegen aus seiner Stellung als Pflichtverteidiger verdrängt und eine der in § 143a Abs. 2 StPO kodifizierten Ausnahmekonstellationen für eine Entpflichtung sei weder geltend gemacht noch ersichtlich.

a) Bereits vor der Reform des Beiordnungsrechts 2019 sei anerkannt gewesen, dass ein Rechtsanwalt seine Bestellung als Pflichtverteidiger nicht dadurch erreichen kann, dass er zunächst durch die Übernahme eines Wahlmandats die Entpflichtung des bisherigen Pflichtverteidigers bewirkt und hiernach auf seine eigene Beiordnung anträgt. Diese Rechtsprechung sei durch § 143a Abs. 1 S. 2 StPO, wonach die Verteidigerbestellung nicht aufzuheben ist, wenn zu besorgen ist, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst niederlegen und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen wird, bekräftigt und kodifiziert worden. Die beabsichtigte Übernahme der Pflichtverteidigung durch die Wahlverteidigerin sei damit von Gesetzes wegen ausdrücklich unerwünscht.

b) Darüber hinaus sei, so der Senat weiter, eine Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeklagten und dem Pflichtverteidiger nicht ersichtlich und vom Angeklagten auch nicht substantiiert dargelegt worden, nachdem dieser lediglich geltend gemacht hatte, die Entpflichtung sei auf seinen Wunsch erfolgt.

c) Schließlich handele es sich auch nicht um einen einvernehmlichen Verteidigerwechsel. Der in der Hauptverhandlung geäußerten Bitte des Pflichtverteidigers, von seinem Mandat entbunden zu werden, misst das KG insoweit keine Bedeutung bei. Der Senat sei davon überzeugt, dass der Pflichtverteidiger diese Erklärung nicht abgegeben hätte, wenn er um den seiner Entpflichtung gesetzlich gerade entgegenstehenden Vorbehalt der Wahlverteidigerin gewusst hätte, die Verteidigung nur als Pflichtverteidigerin zu führen.

d) Darüber hinaus weist das KG darauf hin, dass es im Falle einer Beendigung des Wahlmandats grundsätzlich nicht in Betracht komme, den Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen. Vielmehr sei regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen.

III. Bedeutung für die Praxis

In der Praxis sind immer wieder Versuche zu beobachten, Pflichtverteidiger aus dem Mandat zu drängen, obwohl die Führung der Verteidigung objektiv keinerlei Anlass zu Beanstandungen gibt. Dem ist die Rechtsprechung schon vor der Reform des Beiordnungsrechts 2019 entgegengetreten und hat derartige Verdrängungsversuche unterbunden. Später hat dies der Reformgesetzgeber aufgegriffen und in § 143a Abs. 1 S. 2 StPO festgeschrieben, dass die Beiordnung eines neu hinzukommenden Wahlverteidigers ausscheidet, wenn damit zu rechnen ist, dass dieser selbst seine Beiordnung beantragen wird (zu diesem Problemkreis Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3516 f.). Diese Vorgabe des Gesetzgebers setzt die vorliegende Entscheidung konsequent um.

Darüber hinaus stellt das KG auch klar, dass eine nach wie vor zulässige einvernehmliche „Umbeiordnung“ (hierzu Burhoff/Hillenbrand a.a.O., Rn 3540) dann nicht vorliegt, wenn das vermeintliche Einverständnis des Pflichtverteidigers erschlichen wird. Damit ist der reichlich unkollegialen Vorgehensweise, die beabsichtigte eigene Beiordnung zunächst zu verschweigen, um so eine Einverständniserklärung des Pflichtverteidigers mit seiner Entbindung zu erschleichen, ein Riegel vorgeschoben. Die Entscheidung bietet daher dem ordnungsgemäß arbeitenden Pflichtverteidiger einen effektiven Schutz gegen Verdrängungsversuche.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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