1. Die Anordnung des Vorsitzenden, in der Hauptverhandlung aus Gründen des Infektionsschutzes eine Mund-Nasen-Schutz-Bedeckung zu tragen, ist als sitzungspolizeiliche Maßnahme nach § 176 Abs. 1 GVG zulässig. Das allgemeine Verhüllungsverbot nach § 176 Abs. 2 GVG steht dem nicht entgegen.
2. Wird ein Betroffener wegen ordnungswidrigen Benehmens gemäß § 177 GVG aus dem Sitzungssaal entfernt, rechtfertigt dies nicht die Verwerfung seines gegen den Bußgeldbescheid gerichteten Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG. Vielmehr ist in einem solchen Fall nach § 231b Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG zu verfahren.
(Leitsätze des Gerichts)
BayObLG, Beschl. v. 9.8.2021 – 202 ObOWi 860/21
I. Sachverhalt
Das AG hat gem. § 74 Abs. 2 OWiG den Einspruch des Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid verworfen, mit dem gegen ihn ein Bußgeld in Höhe von 150 EUR verhängt worden war, weil er als Fahrgast im Personennahverkehr entgegen den Bestimmungen der 6. BayIfSMV keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen habe. Dagegen wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, mit der u.a. die Verletzung formellen Rechts gerügt wird.
Dem Urteil des AG liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der Betroffene war im Hauptverhandlungstermin erschienen. Im Sitzungssaal nahm er die bis dahin getragene Gesichtsmaske ab. Trotz mehrfachen Hinweises leistete der Betroffene der Anordnung des Richters, die Maske wieder aufzusetzen, keine Folge, woraufhin der Richter gemäß § 177 GVG die Entfernung des Betroffenen aus dem Sitzungssaal anordnete. Nachdem herbeigerufene Wachtmeister den Betroffenen aus dem Sitzungssaal geführt hatten, hat das AG den Einspruch des Betroffenen verworfen. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des BayObLG hätte das AG den Einspruch des Betroffenen nicht nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen dürfen.
Das BayObLG beanstandet allerdings nicht die Anordnung des Tatrichters, in der Hauptverhandlung eine Maske zu tragen, und die anschließende Entfernung des Betroffenen, der sich nachhaltig weigerte, dieser Anordnung Folge zu leisten. Diese Maßnahmen hätten in den §§ 176 Abs. 1, 177 GVG ihre rechtliche Grundlage. Das begründet das BayObLG wie die h.M. in der Rechtsprechung (BVerfG MDR 2020, 1523; im Ergebnis ebenso OLG Celle, Beschl. v. 15.4.2021, StRR 5/2021, 18 = StraFo 2021, 242; OLG Hamburg NStZ 2020, 694; LG Chemnitz, Beschl. v. 12.4.2021 – 4 Qs 108/21; LG Frankfurt, Beschl. v. 5.11.2020 – 2-03 T 4/20; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 176 Rn 15a; Metz, DRiZ 2020, 256; Schmidt, Covid-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl., § 23 Straf- und Verfahrensrecht Rn 86). Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Meinung (Heuser/Bockemühl, KriPoZ 2020, 342) verstößt nach Ansicht des BayObLG die sitzungspolizeiliche Anordnung einer Maskenpflicht in der Hauptverhandlung auch nicht gegen das in § 176 Abs. 2 S. 1 GVG normierte Verhüllungsverbot. Denn durch die sitzungspolizeiliche Gewalt solle die Ordnung in der Sitzung gewährleistet werden, die einen hinreichend verlässlichen Pandemieschutz mit der Folge impliziere, dass die Anordnung ohne Weiteres von § 176 Abs. 1 GVG gedeckt sei. Das aufgrund des „Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens“ in § 176 Abs. 2 S. 1 GVG aufgenommene Verhüllungsverbot bezwecke keineswegs eine Beschränkung der Befugnisse des Vorsitzenden zur Aufrechterhaltung der Ordnung (BeckOK-GVG/Graf/Allgayer, 11. Ed., § 176 Rn 17; Claus, NStZ 2020, 57).
Das AG hätte jedoch – so das BayObLG – nach der auf § 177 GVG beruhenden Entfernung des Betroffenen aus dem Sitzungssaal den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nicht nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen dürfen, sondern hätte eine Verhandlung in Abwesenheit nach § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 231b Abs. 1 S. 1 StPO durchführen müssen (ebenso: KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 71 Rn 63). Zwar werde in der Literatur zu dieser, soweit ersichtlich, obergerichtlich noch nicht entschiedenen Frage teilweise die Auffassung vertreten, die Vorschriften der §§ 230 Abs. 2, 231 bis 232 und 236 StPO seien wegen fehlenden Regelungsbedarfs nicht anwendbar, weil § 74 Abs. 2 OWiG für die Fälle schuldhaften Fernbleibens die Verwerfung des Einspruchs vorsehe (so BeckOK-OWiG/Hettenbach, 30. Ed., § 71 Rn 51; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl., § 71 Rn 28). Dieser Argumentation sei aber bereits deshalb nicht zu folgen, weil sie nicht die Anwendbarkeit des § 74 Abs. 2 OWiG für Fälle der Entfernung des Betroffenen aus dem Sitzungssaal nach § 177 GVG belege, sondern diese voraussetzt.
Die Entfernung des Betroffenen aus dem Sitzungssaal wegen ordnungswidrigen Verhaltens nach § 177 GVG werde indes von § 74 Abs. 2 OWiG nicht erfasst. Der Gesetzeswortlaut spreche davon, dass der von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbundene Betroffene beim Termin „ausbleibt“, was hier aber gerade nicht der Fall gewesen sei. Vielmehr sei der Betroffene in der Hauptverhandlung erschienen und habe sich dort verteidigen wollen. Selbst bei Zugrundelegung der in Judikatur und Schrifttum vertretenen Auffassung, wonach ein eigenmächtiges Sichentfernen des Betroffenen einem Ausbleiben i.S.d. § 74 Abs. 2 OWiG gleichstehe, weil dies eine Verletzung der Anwesenheitspflicht bedeute (vgl. nur KG zfs 2019, 592; OLG Düsseldorf NZKart 2020, 685; BeckOK-OWiG/Hettenbach, a.a.O., § 74 Rn 27; Göhler/Seitz/Bauer, a.a.O., § 74 Rn 28; KK-OWiG/Senge, a.a.O., § 74 Rn 30; a.A.: BayObLGSt 81, 168; in diese Richtung auch BGHSt 24, 143 = MDR 1971, 675), gelte nichts anderes. Denn der Betroffene habe sich gerade nicht eigenmächtig entfernt, sondern er sei aufgrund seines Verhaltens zwar rechtmäßig, aber gleichwohl gegen seinen Willen aus der Hauptverhandlung entfernt worden. Eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Interpretation des § 74 Abs. 2 OWiG verbiete sich aber schon deshalb, weil es sich um eine Ausnahmevorschrift handele, die wegen der damit verbundenen Friktionen zum rechtlichen Gehör und der mit der fehlenden Sachprüfung einhergehenden Gefahr materiell unrichtiger Entscheidungen eng auszulegen sei (vgl. BayObLG, Beschl. v. 6.9.2019 – 202 ObOWi 1581/19; OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.8.2019 – (1 B) 53 Ss-OWiG 173/19 (263/19); OLG Düsseldorf NZV 1992, 377 zu § 74 OWiG).
III. Bedeutung für die Praxis
1. Soweit es um die Rechtmäßigkeit der Anordnung zum Masketragen in der Hauptverhandlung geht, gilt: nichts Neues aus Bayern, bzw.: Dazu haben wir u.a. schon vom OLG Celle gehört.
2. Zur Einspruchsverwerfung wird man nicht übersehen dürfen, dass wohl auch die ratio legis des § 74 Abs. 2 OWiG für das BayObLG streitet. Denn § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Rechtsvermutung, dass der ausbleibende Betroffene seinen Rechtsbehelf nicht mehr weiterverfolgen wolle und damit auf eine sachliche Nachprüfung der gegen ihn ergangenen Entscheidung verzichte (BGH a.a.O.; KK-OWiG/Senge, a.a.O., § 74 Rn 19). Gerade dies ist aber bei der zwangsweisen Entfernung des Betroffenen nicht der Fall. Vielmehr hat der Betroffene sein Interesse, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und sich zu verteidigen, schon dadurch verdeutlicht, dass er erschienen ist und, wenn auch von ihm verursacht, gleichwohl gegen seinen Willen aus der Hauptverhandlung entfernt wurde. Für die Richtigkeit der Auffassung des BayObLG spricht letztlich auch ein Blick in die vergleichbare Bestimmung des § 329 StPO. § 329 Abs. 2 S. 2 StPO enthält den deklaratorischen Hinweis, wonach § 231b StPO unberührt bleibt. Hieraus wird deutlich, dass der Gesetzgeber im Falle der Entfernung des Angeklagten aus der Berufungshauptverhandlung wegen ordnungswidrigen Verhaltens nach § 177 GVG gerade nicht die Voraussetzungen für eine Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO als erfüllt ansah.
3. Zum ggf. erforderlichen Verfahren nach § 231b StPO ist darauf zu verweisen, dass dabei die durch § 231b Abs. 1 S. 2 StPO vorgeschriebene Verpflichtung, dem Betroffenen Gelegenheit zu geben, sich zur Sache zu äußern, beachtet werden muss. Dies wäre nach Auffassung des BayObLG aber bereits dadurch erfüllt, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, sich unter Anlegung eines Mund-Nasen-Schutzes zur Sache einzulassen.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg