1. Der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren hat als Ausdruck des Anspruchs auf ein faires Verfahren grundsätzlich das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen.
2. U.U. ist es dem Betroffenen daher nicht zuzumuten, an einem Hauptverhandlungstermin ohne Beistand seines Rechtsanwalts teilzunehmen, nachdem ein Terminverlegungsantrag wegen Erkrankung des Verteidigers von dem Vorsitzenden des Bußgeldgerichts abgelehnt worden ist. Für die Entscheidung ist maßgeblich, ob die prozessuale Fürsorgepflicht eine Terminverlegung in Ansehung der Erkrankung des Verteidigers geboten hätte.
3. Die Terminierung ist zwar grundsätzlich Sache des Vorsitzenden. Dieser ist aber gehalten, über Anträge auf Terminverlegung nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen der Prozessbeteiligten zu entscheiden.
4. Im Falle einer Zurückweisung eines Terminverlegungsantrags wegen Erkrankung des Verteidigers bedarf es der Darlegung im Verwerfungsurteil gegen den zum Termin nicht erschienenen Betroffenen, warum das Interesse an einer möglichst reibungslosen Durchführung des Verfahrens Vorrang vor dem Verteidigungsinteresse des Betroffenen hat.
(Leitsätze des Gerichts)
KG, Beschl. v. 8.2.2021 – 3 Ws (B) 26/21
I. Sachverhalt
Der Betroffene hat gegen einen Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung mit einer Geldbuße von 160 EUR und einem Fahrverbot von einem Monat Einspruch eingelegt. Das AG hat daraufhin die Hauptverhandlung auf den 27.10.2020 bestimmt. Am 26.10.2020 hat der Verteidiger des Betroffenen die Aufhebung des Termins und eine „möglichst weiträumige“ Verlegung beantragt, weil er sich plötzlich und unvorhersehbar mit einer überwunden geglaubten Erkrankung konfrontiert gesehen habe, aufgrund derer er auf ärztlichen Rat alle beruflichen Termine habe absagen müssen. Eine Vertretung für ihn habe sich in der Kürze der Zeit für die Hauptverhandlung nicht realisieren lassen. Der Betroffene verfüge nur über eingeschränkte Deutschkenntnisse. Des Weiteren hat sich der Verteidiger mit dem Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung inhaltlich auseinandergesetzt.
Zur Hauptverhandlung sind weder der Betroffene noch der Verteidiger erschienen. Das AG hat daraufhin den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. In dem Urteil hat das AG u.a. ausgeführt, dass der Verlegungsantrag das Ausbleiben des Betroffenen nicht habe entschuldigen können. Auch habe das Gericht dem kurzfristig eingegangenen Verlegungsantrag des Verteidigers nicht stattgeben müssen, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe, und der begehrten „weiträumigen“ Verlegung“ könne schon wegen der kurzen Verjährungsfristen im Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht nachgekommen werden. Auch sei die Art und die Dauer der Erkrankung des Verteidigers völlig unklar geblieben.
Dagegen hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt, die er mit der Verfahrensrüge begründet hat. Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Die gegen das Verfahren gerichtete Rüge sei – so das KG – unter dem Gesichtspunkt zulässig und begründet, dass das nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangene Urteil gegen die Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht verstoße. Der Betroffene habe in diesem Fall nicht darauf verwiesen werden dürfen, ohne seinen Verteidiger an der Hauptverhandlung am 27.10.2020 teilnehmen zu müssen. Denn auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren habe der Betroffene als Ausdruck des Anspruchs auf ein faires Verfahren das Recht, sich in der Hauptverhandlung durch einen gewählten Verteidiger vertreten zu lassen (Art. 6 Abs. 3 lit. c MRK, § 137 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 137 Abs. 1 S. 1 StPO könne sich ein Betroffener in jeder Lage des Verfahrens des Beistands durch einen Verteidiger bedienen. Gleichwohl habe selbst im Strafverfahren nicht jede Verhinderung des gewählten Verteidigers zur Folge, dass eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden kann (vgl. BGH NStZ 2019, 527; KG, Beschl. v. 3.1.2000 – 3 Ws (B) 624/00).
Hier sieht das KG die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts verletzt. Das AG habe die Umstände des Einzelfalls nicht ausreichend berücksichtigt und zudem die Ablehnung des Antrags auf Terminverlegung in den Urteilsgründen nicht ausreichend begründet. Den Urteilsgründen sei lediglich zu entnehmen, dass das AG seine Entscheidung auf den pauschalen Hinweis auf „kurze Verjährungsfristen im Ordnungswidrigkeitenverfahren“ und die Ungewissheit über Art und Dauer der Erkrankung des Verteidigers stütze. Die Darlegung der Auslastung der Abteilung, die einer Neuterminierung entgegengestanden haben könnte, fehlt. Eine Abwägung mit dem Interesse des Betroffenen an einer wirksamen Verteidigung sei den Gründen ebenfalls nicht zu entnehmen. Vielmehr sei wegen der Formulierungen, der auf eine Erkrankung des Verteidigers gestützte Verlegungsantrag entbinde den Betroffenen nicht von seiner Präsenzpflicht und es läge „kein Fall der notwendigen Verteidigung vor“, zu besorgen, dass das AG bei seiner Entscheidung den Gesichtspunkt der prozessualen Fürsorgepflicht nicht ausreichend berücksichtigt habe.
Offensichtlich sei das AG davon ausgegangen, dass sich der Betroffene ohne seinen Verteidiger ausreichend selbst hätte verteidigen können. Diese Annahme habe sich im vorliegenden Fall aber nicht aufgedrängt. Der Tatrichter habe sich dadurch den Blick auf die folgenden Erwägungen verstellt, die in die erforderliche Abwägung der Interessen einzustellen gewesen wären: Der Betroffene sei nicht geständig und dem Verlegungsantrag sei zu entnehmen gewesen, dass er sich gegen den Vorwurf verteidigen wollte. Die Sanktion (ein Bußgeld und ein einmonatiges Fahrverbot), mit der der Betroffene durch den Bußgeldbescheid belegt worden sei, sei zwar nicht als besonders schwerwiegend einzustufen, aber der Vorsitzende habe den Betroffenen mit der Terminladung angesichts der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung – zutreffend – auf eine mögliche Verurteilung wegen Vorsatzes hingewiesen. Der ehemalige Verteidiger habe zudem in dem Antrag seine Verteidigungsstrategie offengelegt und es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass sie auf Prozessverschleppung ausgerichtet war. Der Verteidiger habe auch erstmalig die Verlegung des Hauptverhandlungstermins wegen einer plötzlichen und unvorhersehbaren Erkrankung beantragt.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung ist zutreffend und stellt einerseits schön heraus, worauf die AG, die meist zur Ablehnung von Terminverlegungsanträgen neigen, bei ihren ablehnenden Entscheidungen achten müssen, wenn diese beim Rechtsbeschwerdegericht Bestand haben sollen. Für den Verteidiger bietet die Entscheidung andererseits genügend Hinweise, worauf bei einem Verlegungsantrag und ggf. später bei der Rechtsbeschwerde zu achten ist, wenn eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG als rechtsfehlerhaft beanstandet werden soll.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg