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Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung/-umbeiordnung

1. Von der in § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO begründeten Anhörungspflicht kann nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden.

2. Dem Beschuldigten ist dabei eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren. Dies gilt auch in Haftsachen.

3. Wird dem Beschuldigten eine zu kurze Überlegungsfrist oder mangels jeglicher Belehrung über sein Wahlrecht gar keine Frist gesetzt, ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch noch nach Ablauf der Dreiwochenfrist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO möglich. (Leitsätze des Verfassers)

LG Mainz, Beschl. v. 5.11.2020 – 3 Qs 62/20 jug

I. Sachverhalt

Gegen den Beschuldigten ist ein Ermittlungsverfahren u.a. wegen versuchten Totschlags anhängig. Am 15.7.2020 erließ der Ermittlungsrichter beim AG Mainz einen Haftbefehl und einen Europäischen Haftbefehl gegen den Beschuldigten. Dieser wurde am 4.8.2020 in Frankreich festgenommen. Die französischen Behörden teilten mit, der Beschuldigte habe auf Nachfrage um Verteidigung durch einen Pflichtverteidiger gebeten, und baten um Bestellung eines französischsprachigen Pflichtverteidigers. Durch Beschluss des AG Mainz vom 7.8.2020 wurde Rechtsanwalt R als Pflichtverteidiger bestellt. Am 11.8.2020 bestimmte der Ermittlungsrichter des AG Offenbach Termin für die Vorführung und zur Eröffnung des Haftbefehls auf den 13.8.2020, 15:00 Uhr, die Ladung wurde dem Pflichtverteidiger am Nachmittag des 12.8.2020 per Fax zugesandt. Telefonisch kündigte dieser am Morgen des 13.8.2020 gegenüber dem AG Offenbach an, dass er an dem Termin nicht teilnehmen werde. Im Rahmen der Vorführung wurde dem Beschuldigten bekannt gegeben, dass das AG Mainz ihm einen Pflichtverteidiger, Herrn Rechtsanwalt R, bestellt habe und dieser am Termin nicht teilnehmen könne. Der Beschuldigte wurde zudem u.a. dahingehend belehrt, dass er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen könne; die bereits erfolgte Aushändigung einer schriftlichen Belehrung nach § 114b Abs. 2 StPO in türkischer Sprache wurde festgestellt. Eine Belehrung über sein Recht, selbst einen Pflichtverteidiger zu benennen (§ 142 Abs. 5 StPO) erfolgte nicht.

Am 14.8.2020 beantragte Rechtsanwältin H (erstmals) eine Einzelbesuchserlaubnis für den Beschuldigten zur Führung eines Anbahnungsgesprächs, die ihr Anfang September 2020 erteilt wurde. Mit Schreiben vom 27.8.2020 beantragte der Beschuldigte „die Zulassung meiner Rechtsanwältin H zur Hauptverhandlung mit Az: pp.“. Mit Schreiben vom 3.9.2020 teilte der Beschuldigte mit, dass er von Rechtsanwältin H vertreten werden wolle. Diese teilte am 9.9.2020 ihre ordnungsgemäße Bevollmächtigung durch den Beschuldigten mit sowie, dass dieser nach eigenen Angaben bereits am 20.8.2020 und am 3.9.2020 mitgeteilt habe, dass er von ihr – nicht von Rechtsanwalt R – verteidigt werden wolle, weshalb sie anrege, gegenüber dem Ermittlungsrichter zu beantragen, die Beiordnung von Rechtsanwalt R aufzuheben und sie selbst als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Mit Schriftsatz vom 30.9.2020 erklärte Rechtsanwalt R, er sei mit der Beiordnung der Rechtsanwältin H. mit der Maßgabe einverstanden, dass für ihn die Grund- und Verfahrensgebühr durch die Staatskasse übernommen werde. Durch Schreiben vom 17.9.2020 teilte der Beschuldigte (erneut) mit, dass er von Rechtsanwältin H vertreten werden wolle. Am 13.10.2020 beantragte Rechtsanwältin H (nochmals) unmittelbar gegenüber dem Ermittlungsrichter ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin. Rechtsanwalt R wurde hierzu rechtliches Gehör gewährt; er nahm Bezug auf seine früheren Äußerungen.

Das AG Mainz hat die Entpflichtung von Rechtsanwalt R und die Beiordnung von Rechtsanwältin H abgelehnt und das u.a. damit begründet, dass kein gestörtes Vertrauensverhältnis zu RA R festgestellt werden könne. Der Beschuldigte hat sofortige Beschwerde eingelegt. Diese hatte beim LG Erfolg.

Il. Entscheidung

Das LG hat Rechtsanwalt R entpflichtet und Rechtsanwältin H bestellt. Dazu verweist es auf § 142 StPO. Zwar werde der zu bestellende Verteidiger im Ermittlungsverfahren von dem Ermittlungsrichter ausgewählt (vgl. § 142 Abs. 3 StPO), dem Beschuldigten müsse aber Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen (§ 142 Abs. 5 StPO). Da gemäß § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO der vom Beschuldigten bezeichnete Verteidiger zu bestellen ist, wenn dem nicht ein wichtiger Grund entgegensteht, begründe Satz 1 der Regelung eine Anhörungspflicht, von der nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden könne. Dem Beschuldigten sei dabei eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren. Dies gelte auch in Haftsachen (vgl. OLG Koblenz StV 2011, 349 zum alten Recht). Die Anhörungspflicht bestehe überdies auch in Fällen, in denen ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen sei (§ 141 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 3 StPO); dies sei bereits nach alter Rechtlage für die unverzügliche Bestellung bei Vollstreckung von Untersuchungshaft anerkannt gewesen (vgl. BeckOK-StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 142 Rn 18). Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers komme nur ausnahmsweise in Betracht (Krawczyk, a.a.O., § 144 Rn 1 m.w.N.).

Gemessen an diesen Grundsätzen hätte nach Auffassung des LG aufgrund des Schreibens des Beschuldigten vom 27.8.2020 die Frage, ob ein Pflichtverteidigerwechsel vom Beschuldigten gewünscht war, zumindest geprüft und aufgrund des weiteren Schreibens des Beschuldigten vom 3.9.2020 ein solcher eingeleitet werden müssen. Jedenfalls sei aber aufgrund des Schriftsatzes der Rechtsanwältin H vom 9.9.2020 die Beiordnung von Rechtsanwalt R als Pflichtverteidiger aufzuheben und ihre Beiordnung vorzunehmen gewesen. Auf die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zum (bisherigen) Pflichtverteidiger gestört sei, komme es hierbei nicht an, maßgeblich sei insoweit allein der grundsätzliche Vorrang der Wahlverteidigung (vgl. Krawczyk, a.a.O., §§ 143a Rn 2, 142 Rn 25).

Es sei insbesondere auch von der rechtszeitigen Bezeichnung der Rechtsanwältin H durch den Beschuldigten als gewünschte Pflichtverteidigerin auszugehen. Zwar sei das Schreiben vom 27.8.2020, das aus Sicht der Kammer bei verständiger Auslegung bereits klar den Wunsch des Beschuldigten, von Rechtsanwältin H vertreten zu werden, erkennen lasse, erst am 8.9.2020 zur Handakte der Staatsanwaltschaft gelangt, somit nicht innerhalb der Drei-Wochen-Frist aus § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO, die mit Bekanntgabe der Beiordnung des Pflichtverteidigers am 13.8.2020 zu laufen begann und somit am 3.9.2020 endete. Und auch sein weiteres Schreiben vom 3.9.2020 sei erst am 3.9.2020 bei der Staatsanwaltschaft – nicht dem zuständigen AG Mainz – eingegangen. Werde dem Beschuldigten indes eine zu kurze Überlegungsfrist oder – wie im vorliegenden Fall dem Beschuldigten mangels jeglicher Belehrung über sein Wahlrecht – gar keine diesbezügliche Frist gesetzt, sei eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch danach noch möglich (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 143a Rn 10, ferner auch § 142 Rn 25; vgl. auch KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 142 Rn 8 m.w.N.: keine Ausschlussfrist). Es könne daher auch dahinstehen, wann das Antragsschreiben des Beschuldigten vom 27.8.2020 abgesandt worden sei, wann es bei der Staatsanwaltschaft Mainz einging, warum es erst am 8.9.2020 dort zur Handakte gelangte und ob der Beschuldigte zulässigerweise davon ausgehen durfte, dass dieses – ebenso wie das am 3.9.2020 dort eingegangene Schreiben – noch rechtzeitig an den zuständigen Ermittlungsrichter weitergelangen würde.

III. Bedeutung für die Praxis

Was lange währt, wird endlich gut. Wenn man den o.a. Sachverhalt liest, fragt man sich, warum der Beschuldigte und seine Wahlverteidigerin insgesamt fünfmal beantragen müssen, dass diese als Pflichtverteidigerin bestellt und der ohne Anhörung des Beschuldigten bestellte Rechtsanwalt R entpflichtet wird. Die Voraussetzungen für die angestrebte einvernehmliche Umbeiordnung lagen vor, so dass das AG erheblich schneller hätte umbeiordnen müssen. Umso mehr erstaunt es dann, dass das AG ablehnt und das dann auch noch mit „kein gestörtes Vertrauensverhältnis“ begründet. Das war schon nach altem Recht in den Fällen der „einvernehmlichen Umbeiordnung“ falsch und ist es jetzt unter Geltung des § 143a StPO erst recht. Und dass die „versäumte“ Frist keine Rolle spielen konnte, liegt m.E. auch auf der Hand. Denn der Lauf setzt ja nun einmal voraus, dass der Beschuldigte über seine Rechte belehrt worden ist. Also: Das LG hat Recht und das AG hätte sich und dem LG viel Arbeit ersparen können, wenn es sich vielleicht ein wenig sorgsamer mit der Sache befasst hätte.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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