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Unzulässige rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung

1. Zur Unzulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers und zur Unverzüglichkeit der Entscheidung über den Beiordnungsantrag.

2. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers kommt nur in Betracht, wenn der Beschuldigte keinen Verteidiger hat. (Leitsätze des Verfassers)

LG Ansbach, Beschl. v. 9.11.2020 – 3 Qs 48/20

LG Freiburg, Beschl. v. 4.11.2020 – 16 Qs 62/20

LG Halle, Beschl. v. 10.8.2020 – 10a Qs 84/20

LG Halle, Beschl. v. 7.10.2020 – 3 Qs 109/20

LG Halle, Beschl. v. 18.11.2020 – 3 Qs 109/20

LG Osnabrück, Beschl. v. 16.11.2020 – 1 Qs 47/20

LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20

I. Sachverhalt

In allen Fällen war über die Zulässigkeit einer nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden. In den entschiedenen Fällen waren die Verfahren i.d.R. nach Stellung des Beiordnungsantrags nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden.

II. Entscheidung

Die LG haben die nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Sie beziehen sich zur Begründung im Wesentlichen darauf, dass das neue Recht insoweit keine Änderungen der Rechtslage gebracht habe und die Pflichtverteidigerbestellung nicht im Kosteninteresse erfolge. Als Beleg werden unreflektiert meist nur OLG-Entscheidungen zum alten Recht angeführt. Danach sei die nachträgliche Beiordnung „schlechthin“ (LG Ansbach) unzulässig. Im Übrigen werden aber auch die ggf. zu beachtenden Voraussetzungen der nachträglichen Beiordnung verneint, weil über die Antragstellung nicht verzögert entschieden worden sei (LG Halle, Beschl. v. 10.8.2020 – 10a Qs 84/20).

Das LG Würzburg (a.a.O.) geht noch einen anderen Weg. Es stellt darauf ab, dass die Bestellung des Pflichtverteidigers gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift vom Antrag des Beschuldigten abhängt. Ein solcher Antrag sei vom Beschuldigten über seinen (Wahl-)Verteidiger gestellt worden. Jedoch sei nach dem klaren Wortlaut des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO trotz eines Antrags des Beschuldigten eine Pflichtverteidigerbestellung nur dann unverzüglich erforderlich, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Einzige Ausnahme sei insoweit die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers, sofern die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vorliegen. Auch der bisherige Wahlverteidiger könne zum Pflichtverteidiger bestellt werden. Voraussetzung sei hierbei jedoch, dass der Wahlverteidiger die Niederlegung seines Mandats für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg NJW 2009, 3044; BT-Drucks 19/13829, S. 36). Fehlerhaft sei es dagegen, den Wahlverteidiger ohne Antrag und ohne Ankündigung der Mandatsniederlegung zu bestellen (h.M., vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 141 Rn 2, BeckOK-StPO/Krawczyk, StPO § 141 Rn 2; Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. 2017, Rn 2–4), da dies dem klaren Wortlaut von § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO und dem darin zum Ausdruck kommenden Vorrang der Wahlverteidigung vor der Pflichtverteidigung widersprechen würde. Hier habe der der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt, jedoch gerade nicht angekündigt, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Beschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Es ist erkennbar – und war auch zu erwarten –, dass sich der Streit um die Zulässigkeit einer nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung auch nach neuem Recht fortsetzt. Das immer wieder angeführte Kostenargument ist insoweit m.E. nicht tragend (vgl. dazu StRR 1/2021, 25), und schon gar nicht wird man auf OLG-Entscheidungen zurückgreifen können, die ihrerseits nur auf alte Rechtsprechung verweisen (vgl. dazu OLG Bremen und OLG Brandenburg StRR 12/2020, 25). Allerdings: Es wird letztlich – wie auch nach altem Recht – zwei Lager geben, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Der Verteidiger muss sehen, dass er die Umstände des Einzelfalls herausarbeitet und ggf. auch an die Bescheidung seines Beiordnungsantrages erinnert, damit ihm nicht entgegengehalten werden kann: Du hast nichts getan (vgl. LG Halle, Beschl. v. 18.11.2020 – 3 Qs 109/20).

2. Zu dem vom LG Würzburg aufgestellten „Niederlegungserfordernis“ ist anzumerken: Man kann nur den Kopf schütteln ob dieses Formalismus des LG. Warum muss der Wahlanwalt das Wahlmandat ausdrücklich niederlegen? Enthält nicht die Antragstellung konkludent die Erklärung, dass im Fall der Beiordnung das Wahlmandat niedergelegt wird (ausdrücklich zum neuen Recht LG Frankenthal StRR 9/2020, 19: LG Magdeburg, Beschl. v. 4.6.2020 – 3 Gs 855 Js 81720/19 [164/20])? Und mehr ist auch nicht erforderlich und wird nicht verlangt. Mehr folgt insbesondere nicht aus der vom LG in Bezug genommenen Kommentierung von Meyer-Goßner/Schmitt. Dort heißt es: „Dem steht der Fall gleich, dass der Wahlverteidiger ankündigt, mit der Bestellung sein Wahlmandat niederzulegen.“ „Ankündigt … niederzulegen“. Von „ausdrücklich“ steht da nichts. Und man kann ja wohl kaum aus dem Umstand, dass i.d.R. „ausdrücklich“ niedergelegt wird, nun postulieren, dass das auch erklärt werden muss. Und auch aus der vom LG herangezogenen Gesetzesbegründung folgt nichts anderes. Dort (BT-Drucks 19/13829, S. 36) heißt es: Danach „ist Grundvoraussetzung für die Antragstellung, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen“. Also auch keine Rede von „ausdrücklich“. Dennoch und um dem Formalismus Genüge zu tun: Der Wahlanwalt sollte auf jeden Fall bei der Antragstellung „ausdrücklich“ erklären, dass für den Fall der Beiordnung das Wahlmandat niedergelegt wird. Dann sind alle zufrieden – auch das LG Würzburg – und es kann nicht zu so unsinnigen Argumentationen wie im Beschluss vom 10.11.2020 kommen.

3. Die o.a. Entscheidungen stehen im Volltext u.a. auf www.burhoff.de online.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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