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Stealthing; Strafbarkeit des heimlich ungeschützten Geschlechtsverkehrs

1. Geschlechtsverkehr ohne Kondom unterscheidet sich von Geschlechtsverkehr mit Kondom wesentlich und ist daher eine eigenständige sexuelle Handlung i.S.d. § 177 Abs. 1 StGB.

2. Das Stealthing – also das absprachewidrige Entfernen eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr – ist jedenfalls dann gemäß § 177 Abs. 1 StGB strafbar, wenn der in einem engen raum-zeitlichen Zusammenhang erklärte Widerwillen gegen einen Geschlechtsverkehr ohne Kondom bei vom Opfer unbemerkter vorsätzlicher Entfernung des Kondoms fortwirkt.

3. Eine derartige Veränderung des Sachverhalts begründet keinen täuschungsbedingten Willensmangel, der für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis unbeachtlich sein könnte. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Schleswig, Urt. v. 19.3.2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21

I. Sachverhalt

Die Anklage legte dem Angeklagten zur Last, er habe bei einem Besuch der Nebenklägerin zunächst einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Verwendung eines Kondoms gehabt, nachdem die Nebenklägerin den Angeklagten wie schon in der Vergangenheit auch an diesem Tag ausdrücklich mehrfach darauf hingewiesen habe, dass sie nur zum Geschlechtsverkehr bereit sei, wenn der Angeklagte ein Kondom benutze. Obwohl der Angeklagte dies gewusst habe, habe er nach dem Beginn des Geschlechtsverkehrs während einer Unterbrechung das Kondom von seinem Penis entfernt, ohne dass die Nebenklägerin dies bemerkt habe. Anschließend habe er den Geschlechtsverkehr – nunmehr ungeschützt – fortgesetzt. Die Nebenklägerin habe erst im Anschluss bemerkt, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ungeschützt ausgeführt habe.

Das AG hat festgestellt, dass der Angeklagte den ihm vorgeworfenen Sachverhalt in objektiver Hinsicht eingeräumt hat. In subjektiver Hinsicht habe er sich dahingehend eingelassen, dass er davon ausgegangen sei, die Zeugin habe bemerkt, dass er den Geschlechtsverkehr ohne Kondom fortgesetzt habe, und mangels Widerspruchs nunmehr damit einverstanden gewesen sei, zumal sie ihn nach der Unterbrechung durch ihr Verhalten zur Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs animiert habe. Auf dieser Grundlage hat das AG den Angeklagten schon aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattgefunden habe.

Das Amtsgericht legte dabei die Problematik des sog. Stealthing wie folgt aus: Maßgeblich abzustellen sei nicht auf das Einvernehmen hinsichtlich des durch Kondom geschützten Geschlechtsverkehrs, sondern hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs an sich. Das Einvernehmen müsse sich nach dem Wortlaut des § 177 StGB auf die sexuelle Handlung beziehen, das sei der Geschlechtsverkehr – unabhängig von der Benutzung eines Kondoms. Auch zeige die gesetzliche Überschrift des § 177 StGB, dass es in der Vorschrift um einen Willensbruch gehe, nicht um eine Täuschung des Sexualpartners. Einer anderen Auslegung stehe das strafrechtliche Analogieverbot entgegen.

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Ob das Stealthing – also das heimliche Abziehen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs – nach § 177 Abs. 1 StGB strafbar ist, ist nach dessen Neuregelung in Rechtsprechung und Wissenschaft unterschiedlich betrachtet worden. Die Vorschrift wurde umfassend durch das 50. StÄG vom 4.11.2016 (BGBl I, S. 2460) modifiziert, mit welchem der sogenannte „Nein-heißt-nein“-Ansatz implementiert wurde. Das OLG führt dazu aus:

Jegliche sexuellen Handlungen i.S.d. § 184h StGB gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sollen nun strafbar sein, unabhängig davon, ob diese hierzu genötigt wird; zur Strafbarkeit bedarf es nicht mehr zwingend eines Nötigungselementes in Form von Gewalt, Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder der Ausnutzung einer schutzlosen Lage. Dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung soll damit umfassend Rechnung getragen werden

Somit sei mit der Reform des Sexualstrafrechts der Wille des Opfers in das Zentrum des Tatbestands gerückt, gleichwohl seien die Begriffe „sexuelle Handlung“ und „Handeln gegen den erkennbaren Willen“ im Rahmen der konkreten Rechtsanwendung auslegungsbedürftig geblieben.

Soweit Stealthing für straffrei gehalten werde, wird – wenn auch im Einzelnen mit unterschiedlicher Begründung – wegen des manipulativen Verhaltens des Täters überwiegend eine hinreichende Bildung eines vor dem Recht beachtlichen Gegenwillens des Opfers in Zweifel gezogen. Es handele sich um ein durch den Täter erschlichenes Einverständnis, dem ein generelles oder bedingtes – durch das Opfer zuvor erklärtes – Einverständnis aufgrund dessen aktueller Willensbetätigung nicht entgegengehalten werden könne; mangels Verfügungscharakters des Opferverhaltens sei das fehlende Bewusstsein über das entfernte Kondom unbeachtlich, denn es gehe allein um den tatsächlich vorhandenen aktuellen Willen. Das OLG geht jedoch zumindest für den hier angeklagten Fall von einer grundsätzlichen Strafbarkeit des Stealthing gemäß § 177 Abs. 1 StGB aus.

Das Einverständnis eines möglichen Tatopfers bezieht sich auf konkrete und von seinem unveränderten Willen getragene sexuelle Handlungen. Mit der konkreten Handlung – also dem Geschlechtsverkehr ohne Kondom – war die Nebenklägerin nicht einverstanden, was die Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB begründet.

Entgegen dem Ansatzpunkt des AG bestimme sich zunächst die sexuelle Handlung i.S.d. § 177 Abs. 1 StGB nicht abstrakt oder in Kategorien (etwa Vaginalverkehr, Analverkehr, Oralverkehr). Vielmehr beziehe sich § 177 Abs. 1 StGB auf die konkret vorgenommene Handlung. Diese Handlung stellt eine sexuelle Handlung dar, wenn sie objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, einen eindeutigen Sexualbezug aufweist (vgl. BGH, Urt. v. 15.7.2020 – 6 StR 7/20). Nach § 184h Nr. 1 StGB müsse die sexuelle Handlung außerdem von einiger Erheblichkeit sein. Dass es sich bei der mit der Anklageschrift vorgeworfenen Handlung um eine sexuelle Handlung in diesem Sinne gehandelt hat, steht für das OLG außer Frage.

Auch könne sich – so das OLG – das Einvernehmen des Sexualpartners konkret sehr wohl nur auf bestimmte sexuelle Handlungen beziehen, während gleichzeitig anderen sexuellen Handlungen ein erkennbarer Wille entgegenstehen kann. In der Möglichkeit der freien Willensbildung im Rahmen der sexuellen Selbstbestimmung liegt nämlich das Schutzgut des § 177 StGB. Dies folge auch aus Art. 36 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, mit welchem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich verpflichtet haben, sexuelle Handlungen ohne Einverständnis unter Strafe zu stellen, wobei nach Art. 36 Abs. 2 des Übereinkommens das Einverständnis „freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden“ muss.

Gemessen hieran habe der Angeklagte unter Zugrundelegung des Anklagevorwurfs nach der Unterbrechung des Geschlechtsverkehrs mit dem erneuten Eindringen ohne Kondom nicht den vorherigen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr bloß fortgesetzt, sondern im Rahmen eines einheitlichen Tatgeschehens eine andere sexuelle Handlung an der Nebenklägerin vorgenommen, die von ihr innerlich abgelehnt worden war und deren erklärter und unveränderter Widerwille – sollte sich der Anklagevorwurf bestätigen – für den Angeklagte erkennbar gewesen sei. Anders als das AG meine, habe nämlich Geschlechtsverkehr ohne Kondom gegenüber Geschlechtsverkehr mit Kondom eine eigene und andere Qualität. Dies werde schon daran deutlich, dass zum einen mit dem Fortfall des Kondoms auch eine weitere Barriere gegenüber Intimität entfalle und zum anderen das Risiko der Infektion mit einer übertragbaren Krankheit (insbesondere mit dem HI-Virus) oder einer ungewollten Schwangerschaft vergrößert werde (Herzog, FS Fischer, 2018, 351, 354; KG, Urt. v. 27.7.2020 – (4) 161 Ss 48/20 (58/20) für den Fall – jedenfalls – einer Ejakulation). Nicht ohne Grund werde geschützter Geschlechtsverkehr mit Kondom in der Öffentlichkeit als „Safer Sex“ beworben. Insbesondere durch die Aufklärungskampagnen der 1980er Jahre im Zusammenhang mit zunehmenden und tödlich verlaufenden AIDS-Erkrankungen habe sich in der Gesellschaft ein breites und dies befürwortendes Bewusstsein für die Verwendung von Kondomen – gerade bei Sexualkontakten außerhalb einer Partnerschaft – gebildet. Die Möglichkeit, Risiken für sich selbst und den Sexualpartner zu minimieren, habe die sexuelle Selbstbestimmung in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitgeprägt.

Von einer Vornahme dieser sexuellen Handlung i.S.d. § 177 Abs. 1 StGB gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin sei auf der Grundlage des Anklagevorwurfs auszugehen. Ein derart erkennbarer Wille sei danach aufgrund des engen räumlich-zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Äußerung der Nebenklägerin, zum Geschlechtsverkehr nur bei Verwendung eines Kondoms bereit zu sein, und dem tatsächlich ohne Kondom ausgeübten Geschlechtsverkehr anzunehmen. Dem stehe nicht entgegen, dass beim sexuellen Übergriff nach § 177 Abs. 1 StGB auf den natürlichen Willen abzustellen sei, bei dem Willensmängel regelmäßig keine Rolle spielen. Unterlaufe nämlich der Täter durch Manipulation des Sachverhalts den schon gebildeten und ihm gegenüber artikulierten Willen des Opfers, ohne dass Anhaltspunkte für eine Willensänderung bestehen, kommt es allein auf die vor Beginn des Geschlechtsverkehrs geäußerte Ablehnung ungeschützten Geschlechtsverkehrs an. Ob es hierbei zum Samenerguss gekommen sei, sei unerheblich.

Ausgehend von dem Anklagevorwurf ist nach Auffassung des OLG davon auszugehen, dass die Nebenklägerin sehr zeitnah vor dem Geschlechtsverkehr gegenüber dem Angeklagten zum Ausdruck gebracht hat, dass sie mit dem Geschlechtsverkehr im Sinne einer conditio sine qua non nur bei Benutzung eines Kondoms einverstanden war. Dies sei eine hinreichende Willensbekundung, die grundsätzlich jede Zuwiderhandlung als Verstoß gegen § 177 Abs. 1 StGB erscheinen lässt, weil mit dieser die „Nein-heißt-nein“-Konzeption des Gesetzgebers vereitelt würde. Der Senat übersehe hierbei nicht, dass der Geschlechtsverkehr zwischen zwei Menschen ein durchaus dynamisches Geschehen sein könne und sich das Erleben und Wollen der Beteiligten auf der Zeitachse entwickeln und verändern kann. Allerdings besteht bei engem räumlich-zeitlichen Zusammenhang zwischen der Willensbekundung und dem sich hieran anschließenden Geschlechtsverkehr zumindest eine tatsächliche Vermutung dahingehend, dass geäußerter und später noch vorhandener innerer Willen identisch sind und – sofern keine anderweitigen Anhaltspunkte vorliegen – nicht auseinanderfallen. Zu Recht sei darauf hingewiesen worden, dass in einer derartigen Situation „keine ständige weitere Kommunikation und Vergewisserung stattfinden“ muss, sondern man sich auf „die Gültigkeit der anfänglichen Verständigung“ auch im weiteren Verlauf des Geschehens verlassen können muss. Eine Aufspaltung in kleinere Teilakte mute nicht nur künstlich an, sondern führe zu Ergebnissen, die am Schutzzweck der Verbotsnorm vorbeiführen.

Das OLG hat dabei gesehen, dass sich § 177 Abs. 1 StGB auch nach seiner Neukonzeption nicht auf einen rechtsgeschäftlichen, sondern nur auf den natürlichen Willen der in ihrer sexuellen Selbstbestimmung geschützten Person bezieht. Willensmängel spielen für die Beachtlichkeit eines derartigen Willens grundsätzlich keine Rolle; anders wäre zudem die Regelung von § 177 Abs. 2 StGB nicht zu erklären, die gerade – wenn auch selektiv – Situationen thematisiert, in denen die geschützte Person einen natürlichen Willen nicht oder nur schwer bilden kann. Und auch bei ähnlich konstruierten Delikten wird auf der Ebene des tatbestandsausschließenden Einverständnisses dessen Erlangung durch Täuschung nur ausnahmsweise für bedeutsam gehalten. Beispiele sind etwa das Einverständnis des Geldinstituts mit dem Gewahrsamsübergang am Geldautomaten nur bei ordnungsgemäßer Bedienung oder die Strafbarkeit des Hausfriedensbruchs bei Identitätstäuschung. Der Grund für diese Ausnahmen besteht in den Besonderheiten dieser Situationen, in denen anderenfalls der gewünschte Rechtsgüterschutz erschwert würde.

An eine vergleichbare Situation könne auch beim Stealthing gedacht werden, weil und soweit das Opfer zwar nicht wie beim Hausfriedensbruch durch Abwesenheit, wohl aber durch eine vom Täter verursachte Täuschung an der Bildung und Kundgabe eines aktuellen und möglicherweise andersartigen natürlichen Willens gehindert wird. Insoweit wäre auch der vorsätzlich handelnde Täter weder schutzbedürftig noch schutzwürdig. Ob und in welchen Fällen einer solchen Argumentation tatsächlich zu folgen wäre, könne offenbleiben. Denn zumindest der hier zu entscheidende Sachverhalt betrifft keine Konstellation, in welcher der Täter durch Einwirkung auf das Vorstellungsvermögen des Opfers – also durch Täuschung – eine Fehlvorstellung des Opfers verursacht hätte. Die Fehlvorstellung der Nebenklägerin sei dem Anklagevorwurf zufolge vielmehr allein dadurch entstanden, dass der Angeklagte bei deren gleichbleibender Vorstellung ohne ihr Wissen den Sachverhalt verändert habe. In der Manipulation der für die Nebenklägerin wesentlichen Umstände, mithin einem rein faktischen Handeln durch Abstreifen des Kondoms, liegt keine Täuschung, denn aufgrund der Heimlichkeit mangelt es gerade an einer Einwirkung auf ihr Vorstellungsbild, weshalb ein hierauf beruhender, einen beachtlichen Willensmangel begründender Irrtum bei der Geschädigten nicht entstehen konnte. Mit der faktischen Handlung des Angeklagten wäre auch eine (konkludente) Erklärung, er setze gerade den Geschlechtsverkehr weiter geschützt fort, nicht verbunden. Eine solche Annahme ist im Rahmen eines intimen Verkehrs lebensfremd, und ebenso, wie die Nebenklägerin ihren Willen nicht fortlaufend kundgeben musste, hatte auch das Verhalten des Angeklagten keinen solchen andauernden Erklärungsgehalt. In der Manipulation des Sachverhaltes läge somit die Rechtsgutverletzung bei der Nebenklägerin durch die darin zum Ausdruck kommende gewollte Missachtung ihres frei von Willensmängeln gebildeten, artikulierten und auch mit dem Angeklagten ausgeübten Willens und ist daher grundsätzlich geeignet, unter § 177 Abs. 1 StGB subsumiert zu werden.

Soweit dieser Betrachtungsweise entgegengehalten würde, der ursprüngliche, vor der erneuten Penetration ohne Kondom gebildete Wille der Nebenklägerin sei durch einen jüngeren natürlichen Willen abgelöst worden, weil die Nebenklägerin – in Unkenntnis der wahren Sachlage – gleichwohl in den konkreten Geschlechtsverkehr eingewilligt habe, überzeugt dies den Senat aus mehreren Gründen nicht. So trifft es zwar zu, dass angesichts der Dynamik des Geschehens eine Willensbildung sich geändert und jedenfalls ein Angeklagter dies auch angenommen haben könnte. Allerdings spricht nach dem Anklagevorwurf in diesem Verfahren mangels anderweitiger Feststellungen hierfür bisher nichts; so könnte es allenfalls liegen, wenn das Fehlen eines Kondoms für die Nebenklägerin eindeutig erkennbar gewesen wäre. Insbesondere überzeuge es – so das OLG – nicht, wenn ein – angenommener – jüngerer natürlicher Wille ohne Weiteres gegen einen älteren, aber bereits kommunizierten Willen gewendet würde. Zum einen würde auf diese Weise ein einheitliches Geschehen in unnatürlicher Weise in Teilakte aufgespalten, was einer vorliegend tateinheitlich zu beurteilenden Bewertung des Unrechtsvorwurfs zuwiderläuft. So wie das Opfer nicht immer wieder neu seinen Gegenwillen bekunden muss, ist für die Rechtsgutverletzung auch nicht erforderlich, dass das Opfer den Übergriff immer wieder neu bemerkt. Zum anderen kann jedenfalls aus Sicht des Täters – aber auch jedes anderen objektiven Dritten – nicht auf die Ablösung des bereits geäußerten Willens durch einen neu gebildeten Willen geschlossen werden, wenn evident ist, dass für das Opfer gerade dieser bereits geäußerte Wille noch aktuell ist. Dies ist keineswegs nur eine Frage der „innerlichen“ Einstellung des Opfers, sondern auch der Kundgabe des bereits erklärten Widerwillens.

Mag auch bei einem Geschlechtsverkehr häufig von einem dynamischen Geschehen auszugehen sein, so setzt eine Dynamisierung auch der Willensbildung doch Möglichkeit und Anlass zur Dynamisierung voraus; schon hieran dürfte es aus Sicht der Nebenklägerin gerade gefehlt haben und nichts spricht dafür, dass der Angeklagte einen anderen Eindruck gewonnen haben könnte. Ungeachtet der Frage von Täuschungen fehlt es in einer solchen Situation gerade aus Sicht des Angeklagten und auch eines objektiven Dritten schlicht an einem entsprechenden, den früher geäußerten Willen derogierenden Erklärungsinhalt. Und keinesfalls fallen in einer solchen Situation Wille und Erklärung auseinander, so dass es auch auf die Frage eines Willensmangels nicht ankommt.

Zu einem anderen Ergebnis kann es nach Auffassung des OLG auch nicht führen, dass man den für § 177 Abs. 1 StGB maßgeblichen natürlichen Willen weniger weit reichen lässt als den von der Nebenklägerin bereits zuvor geäußerten Willen. Für eine derartige Reduktion besteht weder Anlass noch Grund. Soll der Schutzzweck des § 177 Abs. 1 StGB ernstgenommen werden, muss nämlich stets entscheidend sein, dass kein Einverständnis mit der konkreten sexuellen Handlung besteht. Diese war aber gerade der Geschlechtsverkehr ohne Kondom und nicht nur der Geschlechtsverkehr an sich.

Hätte also der Angeklagte das Entfernen des Kondoms bewusst vor der Nebenklägerin verheimlicht, um dann von dieser unbemerkt den Geschlechtsverkehr ungeschützt fortsetzen zu können, wäre der – weiterhin – entgegenstehende Wille für ihn auch im Sinne von § 177 Abs. 1 StGB erkennbar gewesen. Denn ihm wäre dann klar gewesen, dass die Nebenklägerin keinen Anlass gehabt hätte, ihren bisherigen Willen zu überdenken; aus der freiwilligen Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs hätte er dann jedenfalls keine Schlüsse auf ein Einverständnis ziehen können.

Für das OLG kam es nicht darauf an, ob es tatsächlich nicht nur zum Geschlechtsverkehr ohne Kondom, sondern auch zur Ejakulation gekommen ist. Dass es zu dieser vorliegend gekommen wäre, ist bisher nicht festgestellt worden. Allerdings ist dies auch rechtlich irrelevant. Denn mag eine Ejakulation auch das Risikopotential für das Opfer noch vergrößern und den Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung noch intensivieren, ist doch die strafbare sexuelle Handlung bereits das Eindringen in das Opfer ohne Kondom selbst. Allein das Abstellen auf die Ejakulation als die von dem Einverständnis nicht mehr getragene sexuelle Handlung erscheint auch deshalb zweifelhaft, weil es sich hierbei vor allem um eine biologisch begründete, konkret nicht mehr gewillkürte Körperreaktion handelt.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Das ursprünglich befasste AG – wie wohl auch die ältere Rechtsprechung – ging zunächst davon aus, dass die Einwilligung zum Geschlechtsverkehr als einheitliches Ganzes gesehen wird. Also: Ja zum Sex reicht. Dabei differenzierte das AG nicht in Art und Weise des Geschlechtsverkehrs, sondern stellte pauschal auf die Bereitschaft hierfür ab. Diese grobe Betrachtungsweise widerspricht dem Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht und dem aus der Lex Lohfink entstandenen „Nein-heißt-nein“-Grundsatz. Denn die Einwilligung zum Geschlechtsverkehr soll, so auch der Wille des Gesetzesgebers, für den Einzelfall und den jeweiligen Akt im Vorfeld konkretisiert werden und eine Abweichung hiervon nicht mehr vom ursprünglichen Willen umfasst sein.

So auch beim Stealthing. Einwilligung besteht zum gemeinsamen Geschlechtsverkehr mit Kondom. Wenn der Wille erkennbar ist, dass Grundvoraussetzung dieser Einwilligung das Tragen des Kondoms ist, dann führt ein heimliches und unbemerktes Abstreifen zu Geschlechtsverkehr gegen den Willen und somit in den Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB. Der Beschluss des OLG Schleswig setzt sich sehr eng mit dem gesetzgeberischen Willen, nämlich dem Paradigmenwechsel des Sexualstrafrechts, auseinander und wird wohl noch häufiger zitiert werden.

2. Eine Frage die sich vielleicht anschließt: Wenn Geschlechtsverkehr ohne Kondom gegenüber Geschlechtsverkehr mit Kondom eine eigene und andere Qualität hat, weil zum einen mit dem Fortfall des Kondoms auch eine weitere Barriere gegenüber Intimität entfällt und zum anderen das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft vergrößert wird, dann könnte daran zu denken sein, dass ein Verstoß gegen § 177 Abs. 1 StGB vorliegt, wenn, wie hier argumentiert, der Mann nur in den Geschlechtsverkehr mit einer Frau einwilligt, wenn diese ihm vorher (wahrheitswidrig) erklärt, sie nehme ein Verhütungsmittel, etwa eine Spirale oder die Antibabypille. Ob diese Fälle, etwa ungewollte Schwangerschaft der Sexualpartnerin, kommen werden, wird sich zeigen. Er würde sich mit der Rechtsprechung des OLG Schleswig aber durchaus vereinbaren lassen.

Rechtsanwalt/FAStR Harald Stehr, Göppingen

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