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Rechtzeitig gestellter Entbindungsantrag

Bei Beantwortung der Frage, wann ein Entbindungsantrag noch als „rechtzeitig“ gestellt anzusehen ist, verbietet sich jede schematische Lösung. Es ist vielmehr zu prüfen, ob in dem jeweiligen Einzelfall – angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht – unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm hätte Kenntnis nehmen können und ihn deshalb einer Bearbeitung hätte zuführen müssen. (Leitsatz des Verfassers)

OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 20.10.2020 – 1 Ss-OWi 1097/20

I. Sachverhalt

Gegen den Betroffenen ist ein Bußgeldbescheid erlassen worden. Auf den Einspruch des Betroffenen hat das AG Termin zur Hauptverhandlung auf den 5.6.2020 um 8:40 Uhr anberaumt. Am 4.6.2020 stellte der Verteidiger des Betroffenen über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) einen Antrag, den Betroffenen von der Erscheinungspflicht in der Hauptverhandlung zu entbinden, der um 16:58 Uhr bei dem elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des AG einging. Der Antrag wurde am 5.6.2020 um 7:19 Uhr ausgedruckt, über die Hauspost verteilt und erreichte die Geschäftsstelle am 9.6.2020. Das AG hat in der Hauptverhandlung den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die keinen Erfolg hatte.

II. Entscheidung

Das OLG hat die Einspruchsverwerfung nicht als rechtsfehlerhaft angesehen. Der Entbindungsantrag des Verteidigers sei nämlich nicht rechtzeitig gestellt worden. Bei Beantwortung der Frage, wann ein Entbindungsantrag noch als „rechtzeitig“ gestellt anzusehen sei, verbiete sich – so das OLG – jede schematische Lösung. Es sei zu prüfen, ob in dem jeweiligen Einzelfall – angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht – unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm hätte Kenntnis nehmen können und ihn deshalb einer Bearbeitung hätte zuführen müssen. Die reine Zeitspanne vom Antragseingang bis zum Hauptverhandlungstermin sei dabei nur ein Teilaspekt, wobei in diesem Zusammenhang die gewöhnlichen Geschäftszeiten des jeweiligen Gerichts nicht außer Acht zu lassen sind (vgl. OLG Bamberg NZV 2008, 259). Außerdem sei zu berücksichtigen, ob – falls der Kommunikationsweg via Fax gewählt wurde – die Telekopie an den Anschluss der zuständigen Geschäftsstelle oder an einen allgemeinen Anschluss des Gerichts versandt wurde. Im letzteren Fall bedarf es eines Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter (OLG Bamberg StraFo 2017, 510).

Hier sei es dem Gericht trotz ordnungsgemäßer gerichtsinterner Organisation nicht mehr möglich gewesen, den Antrag der zuständigen Richterin vor dem Hauptverhandlungstermin zur Bearbeitung vorzulegen. Die Übersendung per beA erfolgt an das EGVP, bei welchem es sich um ein zentrales Postfach des jeweiligen Amtsgerichts handelt. Die Eingangspoststelle sei für die Annahme, den Druck und die Verteilung der gesamten elektronischen Post des AG zuständig. Es kann schon angesichts des Regelungszusammenhangs der Arbeitszeitvorschriften nicht erwartet werden, dass die Poststelle des Gerichts, wo die elektronischen Eingänge in das EGVP ausgedruckt werden, regelmäßig nach 17 Uhr und vor 8 Uhr besetzt sei. Der Antrag sei jedoch am Vorabend vor dem Hauptverhandlungstermin erst um 16:58 Uhr dem EGVP zugeleitet worden und die Verhandlung sei auf 8:40 Uhr anberaumt gewesen Damit lagen lediglich knapp 40 Minuten für die gerichtsinterne Weiterleitung des Schreibens in der üblicherweise zu erwartenden Kernarbeitszeit des AG vor. Dass die notwendigen Arbeitsschritte ohne Weiteres in weniger als einer Stunde Arbeitszeit hätten vorgenommen werden können, ist gänzlich lebensfremd. Zumindest hätte es, wie bei der kurzfristigen Übersendung per Fax an einen allgemeinen Gerichtsanschluss, eines – ohne Weiteres zumutbaren – Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter bedurft. Daran habe es gefehlt.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Wenn man die Entscheidung liest, möchte man der Justiz zurufen: Willkommen im 21. Jahrhundert! Da wird das beA propagiert und die elektronische Akte und der elektronische Rechtsverkehr sollen Pflicht werden, aber die Gerichte brauchen dann vier Tage, um einen Eingang auf die Geschäftsstelle zu transportieren. Das ist lächerlich und nicht hinnehmbar.

2. Im konkreten Fall ist die Entscheidung m.E. aber auch noch aus einem anderen Grund nicht hinnehmbar. Das OLG propagiert eine Einzelfallentscheidung bei der Beurteilung der Frage der rechtzeitigen Antragstellung. Und was macht es? Es stellt generalisierende Überlegungen an – wobei dahin gestellt bleiben soll, ob diese zutreffend sind. Denn das OLG übersieht, dass hier ja der Antrag nicht erst nach 8.00 Uhr ausgedruckt worden ist, sondern schon um 7.19 Uhr, so dass anderthalb Stunden zur Verfügung standen, um den Antrag zur Geschäftsstelle zu transportieren oder um dort anzurufen und auf den Antrag hinzuweisen. Warum das nicht möglich sein soll, erschließt sich nicht. Das hat nichts mit „Arbeitszeitvorschriften“ zu tun, sondern schlicht mit mangelndem Interesse an den Belangen des Betroffenen. Und das OLG Frankfurt am Main unterstützt das mit seinem widersprüchlichen Beschluss. Rechtsschutz nur zwischen 8.00 und 17.00 Uhr. Zudem: Eine Auseinandersetzung mit anders lautender Rechtsprechung (vgl. dazu 3.) erfolgt nicht.

3. Für den Verteidiger ist aus solchen Entscheidungen abzuleiten: Der Entbindungsantrag sollte so rechtzeitig an das AG geschickt werden, dass er dem Richter noch rechtzeitig vor dem Termin vorgelegt werden kann (OLG Bamberg StraFo 2017, 510; zur Kontroverse in der obergerichtlichen Rspr. um den rechtzeitigen Eingang des Antrags s. einerseits OLG Hamm DAR 2011, 539 [anderthalb Stunden nicht ausreichend] m. abl. Anm. Deutscher, VRR 2011, 473; andererseits OLG Bamberg, Beschl. v. 25.3.2008 – 3 Ss OWi 1326/08 [30 Minuten vor HV-Beginn reichen aus] und NZV 2011, 409; s. auch noch KG VRR 2012, 195 [zwei Stunden ausreichend]). Ob dem Amtsrichter dann der Entbindungsantrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis gelangt war, ist unerheblich, maßgeblich ist allein, ob der Antrag bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem Richter hätte rechtzeitig zugeleitet werden können (OLG Naumburg VA 2015, 195).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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