Aus der anwaltlichen Versicherung der ordnungsgemäßen Bevollmächtigung durch den Verteidiger ergibt sich nicht die Erklärung, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt ist. (Leitsatz des Verfassers)
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.10.2020 – 2 Rb 35 Ss 618/20
I. Sachverhalt
Das AG hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot verhängt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Das OLG hat das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt. Der Verfolgung der Tat stehe deren Verjährung entgegen (§ 31 Abs. 1 S. 1 OWiG).
Die dreimonatige Verjährungsfrist aus § 26 Abs. 3 Hs. 1 StVG, die am 12.1.2020 – dem Tattag – zu laufen begonnen hatte (§ 33 Abs. 3 OWiG), sei nur durch die Anordnung der Anhörung des Betroffenen am 17.2.2020 gem. § 33 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 OWiG unterbrochen worden. Damit sei mit Ablauf des 16.5.2020 (zur Fristberechnung siehe KK-OWiG/Ellbogen, 5. Aufl. 2018, § 31 Rn 35 f.) Verjährung eingetreten, so dass der Eingang der Akten beim AG am 1.7.2020 keine erneute Unterbrechung der Verjährung (§ 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG) habe bewirken können
Die Verjährungsfrist sei insbesondere – so das OLG – nicht gem. § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG unterbrochen worden. Eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheids lasse sich nicht feststellen. Es sei nicht nachweisbar, dass die von der Bußgeldbehörde veranlasste Zustellung des Bußgeldbescheids an den Betroffenen (§ 51 Abs. 1 OWiG, § 3 LVwZG) ordnungsgemäß bewirkt worden sei, da die Postzustellungsurkunde nicht in Rücklauf gelangt sei.
Der Zustellungsmangel sei nicht gem. § 51 Abs. 1 OWiG, § 9 LVwZG geheilt worden. Es sei nicht feststellbar, dass dem Betroffenen das zuzustellende Schriftstück tatsächlich zugegangen sei. Aus dem Umstand, dass der Verteidiger des Betroffenen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt habe, lasse sich dies nicht ableiten, da die Bußgeldbehörde – wie von § 51 Abs. 3 S. 3 OWiG vorgeschrieben – zugleich formlos eine Abschrift des Bußgeldbescheids an den Verteidiger übersandt hatte. Es sei zwar durchaus wahrscheinlich, dass der Betroffene – sollte ihn die Zustellung tatsächlich nicht erreicht haben – von seinem Verteidiger zumindest eine Kopie der an diesen übersandten Abschrift des Bußgeldbescheids erhalten hat. Der sichere Nachweis eines solchen Zugangs, wie er für eine Heilung erforderlich wäre, sei jedoch nicht zu führen, so dass es keiner Entscheidung bedürfe, ob auf diese Weise eine Heilung überhaupt hätte bewirkt werden können (vgl. etwa NK-VwVfG/Thomas Smollich, 2. Aufl., VwZG, § 8 Rn 6 m.w.N.; siehe auch – mit Überblick zum Meinungsstand – BGH, Beschl. v. 12.3.2020 – I ZB 64/19 zu § 189 ZPO, dem die Vorschrift des § 9 LVwZG weitgehend angepasst wurde). Die bloße mündliche Überlieferung oder die schriftliche Mitteilung des Inhalts des Bußgeldbescheids genüge nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut und dem Gesetzeszweck nicht, um eine Heilung zu bewirken (vgl. BGH, a.a.O.).
Von einer Heilung des Zustellungsmangels könne auch nicht deshalb ausgegangen werden, weil aufgrund der Einspruchseinlegung jedenfalls feststehe, dass entweder der Betroffene den Bußgeldbescheid oder der Verteidiger eine Abschrift desselben erhalten habe. Mit dieser Erwägung könnte eine Heilung des Zustellungsmangels nur dann angenommen werden, wenn der tatsächliche Zugang der Abschrift des Bußgeldbescheids beim Verteidiger die Heilung der fehlerhaften Zustellung an den Betroffenen gemäß § 51 Abs. 1 OWiG, § 9 LVwZG hätte bewirken können. Dies ist aber nicht der Fall. Dabei bedürfe es keiner Entscheidung, ob eine Heilung überhaupt dadurch eintreten kann, dass eine Abschrift des zuzustellenden Schriftstücks einer anderen Person als derjenigen, an die die Zustellung gerichtet war, tatsächlich zugeht (so OLG Hamm VRR 10/2017, 20; OLG Saarbrücken zfs 2009, 469; a.A. OLG Celle zfs 2016, 110; OLG Stuttgart VRR 2014, 35). Denn auch wenn man dies bejahen würde, käme als andere Person nur eine solche in Betracht, an die die Zustellung nach dem Gesetz hätte gerichtet werden können (OLG Hamm, a.a.O.). Eine solche Person wäre der Verteidiger aber nicht gewesen.
An den gewählten Verteidiger könne gem. § 53 Abs. 3 S. 1 OWiG – kraft gesetzlich fingierter Zustellungsvollmacht – nur dann wirksam zugestellt werden, wenn sich – woran es hier fehle – eine Urkunde über die Bevollmächtigung als Verteidiger bei den Akten befinde (vgl. BGH, Beschl. v. 24.10.1995 – 1 StR 474195; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.3.1996 – 3 Ss 11196; OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.12.1987 – 3 Ss 599/87. Daran könne das Auftreten des Verteidigers gegenüber der Bußgeldbehörde ebenso wenig etwas ändern wie der Umstand, dass der Verteidiger mit Schreiben vom 6.3.2020, mit dem er seine Verteidigung angezeigt hat, eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert habe (OLG Saarbrücken a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.).
Nach Auffassung des OLG ließ sich auch nicht feststellen, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich zum Empfang von Zustellungen ermächtigt war. In der Rechtsprechung sei allgemein anerkannt, dass eine wirksame Zustellung an den Verteidiger nicht nur aufgrund der durch § 53 Abs. 3 S. 1 OWiG begründeten gesetzlichen Zustellungsvollmacht, sondern auch aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht erfolgen könne. Die Erteilung der rechtsgeschäftlichen Vollmacht sei an keine Form gebunden (§ 167 Abs. 2 BGB). Die Feststellung, ob zum Zeitpunkt der Zustellung an den Verteidiger eine ihm rechtsgeschäftlich erteilte Zustellungsvollmacht vorlag, beurteile sich im Einzelfall nach den Gesamtumständen und dem Auftreten des Rechtsanwalts im Verfahren. Solche Umstände hat das OLG verneint. Aus dem Verhalten des Verteidigers könne nicht auf eine entsprechende Bevollmächtigung geschlossen werden. Der Verteidiger habe in seinem Schriftsatz vom 6.3.2020 lediglich die Verteidigung des Betroffenen angezeigt und eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert. Hieraus ergebe sich indes nicht die Erklärung, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt ist, denn nach außen erkennbar ist aufgrund der anwaltlichen Versicherung nur die Bevollmächtigung hinsichtlich der vom Verteidiger vorgenommenen Verteidigungshandlungen, während eine Zustellungsvollmacht passiven Charakter habe. Ebenso verhalte es sich, soweit der Verteidiger mit Schriftsatz vom 6.5.2020 „namens und in Vollmacht des Betroffenen“ Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hat und er in der Hauptverhandlung – wenn auch ohne nachgewiesene Vertretungsvollmacht nach § 73 Abs. 3 OWiG – als Vertreter des von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen aufgetreten sei. Soweit das vom Verteidiger unterzeichnete Empfangsbekenntnis über die Zustellung der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 30.9.2020 den Zusatz: „Ich bin zur Entgegennahme legitimiert und habe heute erhalten“ enthielt, reicht diese ausdrückliche Erklärung zwar zum Nachweis einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht aus. Diese Erklärung belege jedoch nicht, dass die Zustellungsvollmacht bereits zum Zeitpunkt der Zustellung des Bußgeldbescheids bestand. Das Empfangsbekenntnis betreffend die Ladung zur Hauptverhandlung, das zeitlich näher an der Bußgeldentscheidung liege und denselben Zusatz enthalte, sei von vornherein ohne Bedeutung, weil die Ladung an den Verteidiger als solchen gerichtet war, während er die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft als Vertreter des Betroffenen entgegengenommen habe (vgl. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, § 349 Abs. 3 S. 1 StPO).
III. Bedeutung für die Praxis
1. Mal wieder eine schöne Antwort auf die Frage, warum man als Verteidiger keine Vollmacht vorlegen soll. Und: Die Entscheidung zeigt klassisch, worauf es in diesen Fällen ankommt und was man als Verteidiger beachten muss (zu den Vollmachtsfragen – jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung – Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 4677 ff.; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 3557 ff.; Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 4067; zu den Zustellungsfragen Burhoff, HV, Rn 4018 ff.).
2. Das OLG hat dann auch noch die richtige Kostenentscheidung getroffen. Es hat nämlich der Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen gem. § 467 Abs. 1 und 3 S. 2 Nr. 2 StPO auferlegt. Von dem ihm durch § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO eingeräumten Ermessen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen nicht der Staatskasse aufzuerlegen, hat es keinen Gebrauch gemacht. Maßgebend war für das OLG, dass das Verfahrenshindernis bereits zum Zeitpunkt der Abgabe des Verfahrens durch die Bußgeldbehörde an das AG bestand und auch erkennbar war, ohne dass dies in einer tatrichterlichen Hauptverhandlung noch hätte aufgeklärt werden müssen; zum anderen war für das OLG ein prozessual vorwerfbares Verhalten des Betroffenen nicht ersichtlich (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 467 Rn 18 m.w.N.).
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg