1. Die Vorgaben des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind auch anzuwenden, wenn ein früherer, außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufgehoben worden ist und im Zuge der Anklageerhebung ein neuer Haftbefehl erlassen werden soll.
2. Zu den Anforderungen an das Vorliegen „neu hervorgetretener Umstände“ und der notwendigen Begründungstiefe einschlägiger Haftentscheidungen. (Leitsätze des Verfassers)
BVerfG, Beschl. v. 17.12.2020 – 2 BvR 1787/20
I. Sachverhalt
Das AG erließ gegen den Beschwerdeführer am 11.10.2016 Haftbefehl. Am 28.11.2016 wurde der Haftbefehl unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. Noch im Ermittlungsverfahren wurde der Haftbefehl am 23.10.2017 aufgehoben. Mit Erhebung der Anklage am 6.4.2020 hat die StA den Erlass eines Haftbefehls beantragt, den das LG mit Fluchtgefahr angesichts der Straferwartung begründet hat, obwohl der Beschwerdeführer sich nach dem ersten Haftbefehl aus dem Ausland nach Deutschland begeben hatte. LG und OLG haben die Haftbeschwerden verworfen. Auf die Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG den Beschluss des OLG aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
II. Entscheidung
Die angefochtenen Beschlüsse verletzten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so sei jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, aufgrund des Gewichts der grundrechtlich geschützten Verfahrensgarantie des § 116 Abs. 4 StPO nur unter den einschränkenden Voraussetzungen dieser Norm möglich. § 116 Abs. 4 StPO komme auch dann zur Anwendung, wenn ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufgehoben wird und in der Folge ein neuer Haftbefehl erlassen und in Vollzug gesetzt wird. Die einzelnen Widerrufsgründe seien wegen der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts eng auszulegen. Insbesondere bei der Auslegung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO (Erforderlichkeit der Verhaftung wegen neu hinzugetretener Tatsachen) seien strenge Maßstäbe anzusetzen.
Die neu hervorgetretenen Umstände i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO müssten sich jeweils auf die Haftgründe beziehen. Nicht herangezogen werden dürften Umstände des Verdachtsgrades, denn der dringende Tatverdacht ist bereits Grundvoraussetzung für den Erlass und die Aufrechterhaltung eines Haftbefehls. Auch der Abschluss des Ermittlungsverfahrens durch die Anklageerhebung als solcher genüge demnach für eine erneute Inhaftierung nicht. Wirken sich die neu hervorgetretenen Tatsachen aber nicht nur auf den Verdachtsgrad, sondern auch auf einen Haftgrund aus – etwa erhöhte Fluchtgefahr infolge einer nachteiligen Veränderung der Beweislage –, könnten sie ggfs. eine erneute Inhaftierung des Beschuldigten rechtfertigen. Beziehen sich solche Umstände auf die Straferwartung, rechtfertigten sie die Wiederinvollzugsetzung dann, wenn sie zu einer Straferwartung führen, die von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich nach einer Abwägung und Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die Fluchtgefahr durch die Abweichung ganz wesentlich erhöht. Stand dem Beschuldigten aber die Möglichkeit einer für ihn nachteiligen Änderung der Prognose während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen und kam er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nach, setze sich insoweit der vom Beschuldigten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.
Die Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO fordere nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging. Auch Entscheidungen über die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls unterlägen insofern – ebenso wie Haftfortdauerentscheidungen – einer erhöhten Begründungstiefe. Geboten seien aktuelle Ausführungen zu dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit. Weder LG noch OLG hätten in der gebotenen Begründungstiefe dargelegt, weshalb nach dem beanstandungsfreien Verlauf der Haftverschonung für die Dauer eines Jahres und dem Ablauf weiterer zweieinhalb Jahre, in denen der zuvor außer Vollzug gesetzte Haftbefehl aufgehoben war, neu hervorgetretene Umstände den Erlass eines Haftbefehls und zusätzlich dessen Invollzugsetzung erforderlich gemacht haben. Auch soweit das LG sich auf weitere Gesichtspunkte (Erhöhung der Schadenssumme sowie Erhöhung der Anzahl der einzelnen Tathandlungen, derer der Beschwerdeführer dringend verdächtig ist) bezieht, die das OLG als neu hervorgetretene Umstände im Sinne dieser Vorschrift einordnet, genüge die Argumentation beider Gerichte den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe nicht. Insbesondere hätten LG und OLG darauf eingehen müssen, von welcher Straferwartung der Beschwerdeführer ursprünglich ausging. Denn schon das AG habe für den ursprünglichen, später aufgehobenen Haftbefehl eine mögliche Erhöhung der Schadenssumme – und damit implizit auch die Erhöhung der Anzahl der einzelnen Tathandlungen – im ursprünglichen Haftbefehl tragend für die Begründung der Fluchtgefahr herangezogen. Auch soweit LG und OLG ihre Entscheidungen auf eine Intensivierung der Auslandskontakte des Beschwerdeführers gestützt haben, würden sie den dargelegten Begründungsanforderungen nicht gerecht. Schließlich setzten sich die Fachgerichte nicht mit hinreichender Begründungstiefe mit der Frage auseinander, ob statt einer Invollzugsetzung des erneuten Haftbefehls nicht mildere Mittel zur Verfahrenssicherung in Betracht kommen. Die Annahme prozesstaktischen Wohlverhaltens bedürfe einer gründlichen Erörterung aller Besonderheiten des Einzelfalls.
III. Bedeutung für die Praxis
Erneut musste sich das BVerfG mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Untersuchungshaft befassen, hier mit den Anforderungen an die „neu hervorgetreten Tatsachen“ gem. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO (früher BVerfG StV 2006, 26; 2007, 84; 2008, 25; 2013, 94). Auch wenn grundsätzlich Einigkeit darüber besteht, dass die Schwelle für die Wiederinvollzugsetzung hierbei hoch ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 116 Rn 28 m.N.), belegt der vorliegende Fall exemplarisch, dass die Praxis diese Vorgaben nicht immer einhält. Das BVerfG hat überzeugend dargelegt, dass strenge Maßstäbe gelten und hohe Anforderungen an die Begründungstiefe von gerichtlichen Entscheidungen zu stellen sind. Auch kann es keinen Unterschied machen, ob es um die Wiederinvollzugsetzung geht oder um den Neuerlass eines Haftbefehls nach Aufhebung eines früheren, außer Vollzug gesetzten Haftbefehls. Für Verteidiger ist insbesondere hilfreich, dass das BVerfG Richtlinien für die Bewertung typischer Kriterien aufstellt wie etwa der Verschärfung der Straferwartung seit Erlass des ursprünglichen Haftbefehls oder des Verhaltens des Beschuldigten während der Haftverschonung. Vor allem die bloße Erhebung der Anklage genügt für sich allein nicht für eine durchgreifende Änderung der Umstände.
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum