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Keine Bindung an Verständigung nach Aussetzung der Hauptverhandlung

1. Wird das Verfahren, in dem es zu einer Verständigung gekommen war, ausgesetzt, entfällt die Bindung des Gerichts an die Verständigung.

2. Das aus der Aussetzung resultierende Entfallen der Bindungswirkung führt grundsätzlich zur Unverwertbarkeit des im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebenen Geständnisses in der neuen Hauptverhandlung.

3. Eine Pflicht, den Angeklagten zu Beginn der neuen Hauptverhandlung über die Unverwertbarkeit seines in der ausgesetzten Hauptverhandlung abgegebenen Geständnisses ausdrücklich („qualifiziert“) zu belehren, besteht nicht, wenn der Angeklagte vor der Verständigung ordnungsgemäß nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war; es genügt, wenn er zu Beginn der neuen Hauptverhandlung darüber informiert wird, dass eine Bindung an die in der ausgesetzten Hauptverhandlung getroffene Verständigung entfallen ist (Abgrenzung zu BGH, 1. Senat, NStZ 2019, 483).

(Leitsätze des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 17.2.2021 – 5 StR 484/20

I. Sachverhalt

In einer ersten Hauptverhandlung war es zu einer Verständigung nach § 257c StPO gekommen. Im Hinblick darauf hatte der Angeklagte ein den Anklagevorwurf vollständig einräumendes Geständnis abgegeben. Da ein Schöffe und der Beisitzer erkrankten, musste die Hauptverhandlung ausgesetzt werden. Nach dem Neubeginn der Hauptverhandlung teilte der Vorsitzende den Inhalt der Verständigung dahin mit, „dass bei einer glaubhaften und geständigen Einlassung des Angeklagten zu den Anklagevorwürfen eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen zwei Jahren und sechs Monaten und zwei Jahren und neun Monaten verhängt [werde]. Nach Aussetzung der Hauptverhandlung [sei] die Bindung an diese Verständigung entfallen.“ Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung legte der Angeklagte nunmehr ein Teilgeständnis ab. Seine Revision blieb erfolglos.

II. Entscheidung

Die Rüge einer Verletzung des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO sei unbegründet. Vorfrage eines etwaigen Verwertungsverbots und einer sich darauf beziehenden Belehrungspflicht sei zunächst, ob durch die Aussetzung des Verfahrens die Bindungswirkung der Verständigung entfallen ist. Denn nur dann sei nach der gesetzlichen Konzeption des Verständigungsverfahrens, wie sie in § 257c Abs. 4 StPO Ausdruck gefunden hat, eine Unverwertbarkeit des Geständnisses vorgesehen. Ein Wegfall der Bindungswirkung ergebe sich allerdings nicht aus dem Wortlaut des § 257c Abs. 4 StPO. Der Gesetzgeber habe den Fall der Aussetzung nicht erkennbar im Blick gehabt, habe aber in der Begründung des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren zum Ausdruck gebracht, dass die Bindungswirkung nach Maßgabe von § 257c Abs. 4 StPO – allgemeinen Grundsätzen entsprechend – nur für das „Tatsachengericht“ gelte, das die der Verständigung zugrunde liegende Prognose abgegeben hat (BT-Drucks 16/12310, S. 15). Dies habe auch in der Rechtsprechung des BGH seinen Niederschlag gefunden (BGH NStZ 2017, 373, 374 = StRR 5/2017, 12 [Deutscher</span>]; NStZ-RR 2013, 373) Der Senat schließt sich dieser Auffassung an. Andernfalls könnten Richter, die an einer Verständigung nicht beteiligt waren und eine solche mit dem Inhalt auch nicht getroffen hätten, bei ihrem Urteilsspruch gebunden werden.

Ist infolge der Aussetzung die Bindungswirkung der Verständigung entfallen, folge daraus grundsätzlich die Unverwertbarkeit des im Vertrauen auf ihren Bestand abgegebenen Geständnisses in der neuen Hauptverhandlung. Allerdings habe sich in der Rechtsprechung noch keine einheitliche Linie entwickelt, ob in Fällen, in denen eine Verständigung ihre Bindungswirkung – wie hier – aus anderen als in den in § 257c Abs. 4 S. 1 und 2 StPO genannten Gründen verliert, ein im Hinblick auf die Absprache abgegebenes Geständnis verwertet werden darf. Es bestehe zwar Einigkeit, dass das gesetzliche Verwertungsverbot nach § 257c Abs. 4 S. 3 StPO insoweit nicht unmittelbar anwendbar ist. (BGH NJW 2011, 1526, 1527; NStZ 2013, 353, 355 = StRR 2012, 189 [Deutscher</span>]; OLG Nürnberg NStZ-RR 2012, 255 = StRR 2012, 347 [Deutscher</span>]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 257c Rn 28). Es werde aber gleichwohl in bestimmten Konstellationen ein Verwertungsverbot befürwortet oder jedenfalls erwogen. Dies gilt insbesondere in den zum Teil mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Konstellationen, in denen die Bindungswirkung einer Verständigung infolge einer Rechtsmitteleinlegung gegen das auf der Absprache beruhende Urteil, etwa nach Berufungseinlegung für das Berufungsgericht oder nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht, für das neue Tatgericht entfällt. Insoweit werde die Frage nach der Verwertbarkeit des Geständnisses differenziert beantwortet. Legt nur der Angeklagte Rechtsmittel ein, lägen nach einer Auffassung die Voraussetzungen eines Verwertungsverbots nicht vor, weil das Verschlechterungsverbot der §§ 331, 358 Abs. 2 StPO die in der (ersten) Tatsacheninstanz vereinbarte Strafobergrenze für das weitere Verfahren perpetuiere; der Angeklagte werde dadurch hinreichend geschützt (BGH StV 2010, 470; OLG Nürnberg a.a.O.). Andere Gerichte hielten auch in diesen Fällen eine (entsprechende) Anwendung von § 257c Abs. 4 S. 3 StPO für geboten und bejahen generell ein Verwertungsverbot (OLG Düsseldorf StV 2011, 80, 81 = StRR 2011, 226 [Burhoff]). Legt hingegen die StA zulasten des Angeklagten Berufung oder Revision ein, so sei es nach ganz überwiegender Auffassung geboten, den Umstand, dass das Berufungsgericht oder nach Aufhebung und Zurückverweisung das neue Tatgericht an die Verständigung nicht gebunden ist, dadurch zu kompensieren, dass das im Hinblick auf die Verständigung abgegebene Geständnis jedenfalls dann nicht verwertet werden darf, wenn sich das nunmehr zur Entscheidung berufene Gericht nicht selbst an die in der Verständigung vereinbarte Strafobergrenze halten will (OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294). Die Unverwertbarkeit des Geständnisses werde insoweit teilweise mit einer analogen Anwendung von § 257c Abs. 4 S. 3 StPO begründet (OLG Düsseldorf StV 2011, 80,). Richtigerweise könne die Unverwertbarkeit eines Geständnisses in diesen Fällen nur mit den – auch in den Gesetzgebungsmaterialien angesprochenen – Vertrauensschutzgesichtspunkten begründet und damit letztlich aus dem verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz des fairen Verfahrens abgeleitet werden (OLG Karlsruhe a.a.O.). Auch der BGH habe für den Fall der Aufhebung und Zurückverweisung eines Urteils nach einer zulasten des Angeklagten eingelegten Staatsanwaltschaftsrevision für das neue Tatgericht die Annahme eines Verwertungsverbots grundsätzlich befürwortet (BGH NStZ 2017, 373, 374 = StRR 5/2017, 12 [Deutscher]). Mit den in der letzten Fallgruppe genannten Konstellationen sei der vorliegende Fall vergleichbar, der dadurch gekennzeichnet ist, dass einerseits eine Bindungswirkung an die Verständigung nicht (mehr) besteht und andererseits der Angeklagte nicht durch das Verschlechterungsverbot geschützt ist. Dies rechtfertige es im Hinblick auf den für den Gesetzgeber leitenden „Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens“ auch in Fällen, in denen es infolge einer Aussetzung der Hauptverhandlung zum Wegfall der Bindungswirkung einer Verständigung kommt, grundsätzlich von einem Verwertungsverbot hinsichtlich des Geständnisses auszugehen (so auch Schlothauer, StraFo 2011, 487, 494; vgl. BGH NStZ 2019, 483).

Einer über die der gesetzlichen Konzeption in § 57c Abs. 4 und 5 StPO entsprechende Mitteilung hinausgehenden „qualifizierten“ Belehrung über die Unverwertbarkeit des Geständnisses bedürfe es nicht. Dies zeige auch das Verhalten des Beschwerdeführers, der – von der Unverwertbarkeit seines früheren Geständnisses ausgehend – die Tatvorwürfe in der neuen Hauptverhandlung nur noch teilweise eingeräumt hat. Der Annahme einer solchen „qualifizierten“ Belehrungspflicht stehe zudem entgegen, dass in den Fällen, in denen eine über die in § 136 Abs. 1 StPO normierten Pflichten hinausgehende sogenannte qualifizierte Belehrung üblicherweise vorgesehen ist, zunächst gegen eine gesetzliche Hinweis- oder Belehrungspflicht verstoßen wurde, bevor der Beschuldigte später erneut vernommen wird (BGHSt 53, 112, 115 = NJW 2009, 1427 = StRR 2009, 140 [Stephan]). Hierbei diene die sogenannte qualifizierte Belehrung somit dazu, einen anlässlich einer früheren Vernehmung zutage getretenen Verfahrensfehler zu korrigieren, mithin die Möglichkeit seiner Fortwirkung zu beseitigen und so den Einfluss des früheren Fehlers auf die neuen Angaben möglichst auszuschließen. Ein solcher Fall sei aber nicht gegeben, wenn es lediglich darum geht, ob und gegebenenfalls wie der Angeklagte über die Verwertbarkeit oder Unverwertbarkeit seiner in erster Instanz ordnungsgemäß zustande gekommenen Einlassung zu informieren ist. Der Senat brauche deshalb nicht zu entscheiden, ob er der in Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Ansicht folgen würde, jedenfalls in den Fällen, in denen sich das Berufungsgericht nicht an die Verständigung binden wolle, müsse der Angeklagte zu Beginn der Berufungshauptverhandlung neben der Belehrung nach § 332 i.V.m. § 243 Abs. 5 S. 1 StPO entsprechend § 257c Abs. 4 S. 4 StPO „qualifiziert“ über die Unverwertbarkeit seines erstinstanzlich abgegebenen Geständnisses belehrt werden (OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamburg NStZ 2016, 182, 183). Der Rechtsauffassung des Senats stehe die Rechtsprechung des BGH nicht entgegen. Der 1. Strafsenat habe zwar (NStZ 2019, 483) ausgeführt, dass der Angeklagte von Seiten des Gerichts darüber aufzuklären und zu belehren sei, dass bei einer Aussetzung der Hauptverhandlung nach einer Verständigung in der neuen Hauptverhandlung die Bindungswirkung der ursprünglichen Verfahrensverständigung entfallen sei und sein vormaliges Geständnis nicht verwertet werden dürfe; die in der ausgesetzten Hauptverhandlung gemäß § 257c Abs. 5 StPO erteilte Belehrung genüge dafür nicht. Dieser Entscheidung habe indes ein entscheidend anders gelagerter Fall zugrunde gelegen: Dort hatte der Vorsitzende weder über die Verständigungsgespräche noch über die in der ausgesetzten Hauptverhandlung erzielte Verständigung informiert, sondern ausdrücklich festgestellt, dass „Gespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht i.S.v. §§ 202a, 212, 257c StPO nicht stattgefunden“ hätten. Dementsprechend habe der 1. Senat die Revision des Angeklagten „bereits mit der Angriffsrichtung, dass eine Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO verletzt sei“, für begründet erachtet. Damit erweisen sich die Ausführungen zu einer Belehrungspflicht, auf die der 1. Strafsenat nur in der Begründung, warum ein Beruhen des Urteils auf der Verletzung der Mitteilungspflicht auch nicht ausnahmsweise verneint werden könne, beiläufig zurückgekommen ist, als nicht tragende Erwägungen. Ihnen sei zudem nicht zu entnehmen, dass der 1. Senat auch im vorliegenden Fall eine weitergehende Belehrung für erforderlich gehalten hätte.

III. Bedeutung für die Praxis

Der 5. Senat unternimmt in dem für BGHSt vorgesehen Beschluss eine Tour de Force durch die Bereiche Bindungswirkung und Mitteilungspflicht nach Aussetzung der Hauptverhandlung (aktuelle Rechtsprechungsübersicht zur Verständigung bei Deutscher, StRR 5/2021, 5). Der Versuch, die gegenteilige Ansicht des 1. Senats (NStZ 2019, 483) zur qualifizierten Belehrung in solchen Fällen als bloßes obiter dictum abzutun, lässt die Absicht erkennen, die Frage nicht dem Großen Senat vorlegen zu müssen. Der 1. Senat hat sehr deutlich auf die seiner Meinung nach notwendige qualifizierte Belehrung hingewiesen: „Die in der ausgesetzten Hauptverhandlung gemäß § 257c Abs. 5 StPO erfolgte Belehrung genügt hierfür nicht, zumal sie die vorliegende Fallgestaltung nicht erfasst. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Angeklagte im Falle der Mitteilung des Inhalts der vorausgegangenen Verständigungsgespräche und der sich hieraus ergebenden prozessualen Folgen, über die er vom Gericht hinzuweisen war, sein Aussageverhalten hierauf eingestellt hätte.“ Eingedenk dessen dürfte das letzte Wort hierzu zwischen den Senaten noch nicht gesprochen sein.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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