Beitrag

E. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Justiz, Teil 3: Potenzielle Anwendungsfälle

I. Einleitung

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Am 15.5.2019 veranstaltete der EDV-Gerichtstag einen Workshop über die
Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der
Justiz. In dem vorliegenden Text sollen die Ergebnisse der Veranstaltung
vorgestellt werden.

Herr Dr. Wolfram Viefhues, geschäftsführender Vorstand des Deutschen
EDV-Gerichtstages e.V., eröffnete den Workshop und wies darauf hin, dass durch
die Vorträge über den Einsatz von KI in der Praxis konkrete Impulse für eine
Übertragung auf die Justiz gegeben werden sollen.

Die Verfasserin übernahm mit dem Impulsvortrag „Voraussetzungen und
Rahmenbedingungen für KI-Anwendungsfälle aus justizfachlicher Sicht“ die
Einführung in die Thematik. Die wesentlichen Themen dieses Vortrags wurden
bereits in Beiträgen der eBroschüren ERV 1/2019 und 2/2019
veröffentlicht.

II. Praxiserfahrungen aus der Beratungs- und Projektarbeit

1. Beratung von Rechtsabteilungen (KPMG)

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Herr Rechtsanwalt Matthias Friemelt, Senior Associate Handels- und
Gesellschaftsrecht bei der KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mbH trug über
das Thema „Legal Tech – Praxiserfahrungen aus der Digitalisierungs-,
Technologie- und Prozessberatung von Rechtsabteilungen“ vor. KPMG
unterstützt bei der Digitalisierung der Rechtsabteilung. In einem ersten
Schritt werden Services ermittelt, die für den Einsatz von Legal Tech
geeignet sind. In einem zweiten Schritt wird eine Digitalisierungsstrategie
zur Optimierung der Leistungserbringung erstellt. Danach werden die
geeigneten Legal Tech Provider identifiziert und die Systeme eingeführt. Es
wird versucht, die einfachen Arbeiten zu digitalisieren, damit die Juristen
mehr Zeit für anspruchsvolle Arbeiten haben.

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Als Beispiele nannte er die standardisierte Beantwortung
wiederkehrender Rechtsfragen, die effiziente Erstellung von Dokumenten, das
rechtssichere Management von Verträgen, das schnelle Erfassen von
Vertragsinhalten, das umfassende Monitoring von Rechtsänderungen, die
adressatengerechte Kommunikation von Unternehmensrichtlinien, ein
effizientes juristisches Projektmanagement, die Bearbeitung von
Massenklagen, die Reduzierung von (externen) Kosten und die Verwaltung
globaler Einheiten.

In der Justiz wäre beispielsweise denkbar, dass ein Abgleich von
Standard-Dokumenten zur Förderung einer effizienten Bearbeitung ermöglicht
wird oder dass mit Hilfe von KI Daten aus Dokumenten sowohl auf Ebene der
Service-Einheiten als auch auf Richterebene extrahiert werden. Zudem könnte
eine Automatisierung durch den Einsatz von Chatbots erfolgen.

2. Das „Garage-Model“ und andere Ansätze zur KI-Entwicklung

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Frau Patricia Haubensak ,
Consultant Watson IoT Industry Lab, IBM Deutschland, versuchte in ihrem
Vortrag den Teilnehmern die „Garage“ und andere Methoden, mit denen
KI-Projekte von öffentlichen Kunden bearbeitet werden können, näher zu
bringen. Sie schilderte mehrere Anekdoten aus der praktischen Arbeit der
Entwickler. Ziel der Präsentation war, durch die Vorstellung des
„Garage-Models“ zu erläutern, wie ein überprüfbarer erster Prototyp (im
Sinne eines sog. Minimum Viable Product) mit geringem Zeit- und
Geldinvestment geschaffen werden kann.

III. Chatbots im Justizumfeld

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Herr Felix Augenstein , Digital
Client Representative, IBM Deutschland, demonstrierte im Rahmen einer
Videokonferenz wie ein Chatbot entwickelt wird und arbeitet. Sein Vortrag trug
den Titel „Hands-On – So entstehen Chatbot-Lösungen“.

Der von ihm demonstrierte Chatbot nutzt den Watson Assistant und wurde
in der IBM Cloud konfiguriert. Zunächst gab Herr Augenstein einen Überblick über
die IBM Cloud und den IBM Watson Assistant. Der durch ihn vorgeführte Chatbot
trägt die Bezeichnung „Chatbot für die Rechtsantragsstelle“. Seine tatsächliche
Funktion ist jedoch bei dem Auffinden des korrekten Formulars bei Justiz-Online
(z.B. zur Beantragung von PKH oder Beratungshilfe) zu unterstützen. Der Chatbot
ist in der Lage, Umgangssprache zu verstehen. In einer künftigen Version wäre es
möglich, einen Modus für einfache Sprache zu schaffen.

Der Einsatz eines Chatbots ermöglicht, Prozesse zu automatisieren, um
Zeit und Geld zu sparen sowie Fehlerquoten zu reduzieren. Das Bedürfnis der
Nutzer nach menschlicher Konversation kann besser befriedigt werden als es beim
Ausfüllen von Formularen der Fall ist.

Herr Udo Würtz , Business
Development Director EMEIA, Chief Evangelist Data Center Business EMEIA, Fujitsu
Technologie Solutions GmbH, trug zu dem Thema „Co-creation: KI-Projekte
gemeinsam entwickeln“ vor. Er spielte Aufzeichnungen vor, bei denen eine als
solche nicht erkannte KI, Frisör- und Restaurantbesuche buchte. In der Justiz
könne KI seiner Einschätzung nach zur Automatisierung von Suchen und zum
Klassifizieren von Ergebnissen eingesetzt werden.

IV. KI in der forensischen Analyse

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Herr Felix Bleichert , Security
Solutions, IBM Deutschland, und Herr Oliver
Schembach
, Intelligence Analysis Professional, IBM
Deutschland trugen zu dem Thema „Cyberkriminalität – Bedrohungslage und
forensische Analyse“ vor. Sie stellten zunächst die Tätigkeiten von IBM im
Bereich Cybersecurity (X-Force Red und X-Force IRIS) vor und wiesen auf den
einmal im Jahr erscheinenden IBM X-Force Threat Intelligence Index Report
hin.

Sodann stellten sie die Software „IBM i2 Intelligence Analysis
Expertise“ vor. Ihr analoges Vorbild ist die Wand, auf der mit Bildern, Karten
und Fäden, die die Zusammenhänge darstellen, ein Kriminalfall abgebildet wird,
um diesen aufzuarbeiten. Die Software ermöglicht die digitale Aufarbeitung. Die
Analysten nutzen Intelligence Analysis zum Auffinden von Hinweisen auf
potenziell kriminelle Aktivitäten. Sie betrachten Personen, Objekte, Orte,
Ereignisse, strukturierte und unstrukturierte Daten, auch Entwicklungen im
Darknet und externe Daten sowie Daten aus sozialen Netzwerken und suchen nach
Netzwerken, Beziehungen, Mustern in den Daten und Anomalien in geografischen,
zeitlichen, wiederkehrenden Abfolgen.

Der Analyst sucht Muster. Ein großer Teil seiner Arbeit beinhaltet
visuelle Analyse. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass Entscheidungen
getroffen werden müssen, die nicht an KI abgegeben werden (Stichwort: Automated
Tradecraft).

Es gibt immer mehr unstrukturierte Daten. KI kann bei deren Auswertung
unterstützen. Für eine hohe Erfolgsquote der digitalen forensischen Arbeit ist
es sinnvoll, Konnektoren zu möglichst vielen Daten(quellen) zu schaffen, um eine
möglichst große Menge Daten in das System zu bekommen.

V. Informationsextraktion und intelligente Dokumentanalyse

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Herr Dr. Mathias Bauer ,
Partner im Lighthouse Deutschland – Center of Excellence für Data &
Analytics, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Research Fellow des
Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), referierte zu
dem Thema „Informationsextraktion und intelligente
Dokumentanalyse“.

Viele Informationen liegen in der Form von Texten und nicht als
strukturierte Daten vor. Häufig handelt es sich um Scans, die im pdf-Format
gespeichert werden. Teilweise sind diese OCR-behandelt und teilweise liegen sie
nur als Bilder vor.

Herr Dr. Bauer erläuterte die
intelligente Dokumentenanalyse, bei der nach einer Vorverarbeitung ein
neuronales Netz genutzt wird, um die relevanten Informationen zu ermitteln (Deep
Learning). Ein solches ist in der Lage, Objekte und Strukturen zu erkennen. Im
Anschluss werden regelbasierte oder linguistische Verfahren eingesetzt.
Metainformationen werden extrahiert. Die ermittelten Daten werden validiert und
in das System eingepflegt. Der Mensch muss immer mit in der Schleife sein. Es
handelt sich um eine Kombination von menschlicher Intelligenz und
Plausibilitätsprüfung.

In M&A Fällen müssen sich Anwälte in kurzer Zeit einen Überblick
über eine große Anzahl von Verträgen verschaffen. Die Herausforderungen sind die
Scanqualität, die verwendete Sprache und die Verfügbarkeit von Trainingsdaten.
Es ist eine große Anzahl von Vertragsbeispielen nötig, die annotiert werden
müssen. Er verglich den klassischen datengetriebenen Entwicklungsprozess, bei
dem ein Machine-Learning-Model mit Rohdaten trainiert wird, die mit Labels
versehen wurden, mit dem hybriden Ansatz, bei dem menschliches Expertenwissen
und mit Machine-Learning kombiniert wird. Bei Letzterem werden weniger Daten
benötigt und bessere Ergebnisse erzielt. Bei diesem Ansatz helfen zunächst
Experten bei der Zusammenstellung von Domänenwissen. Die Daten werden
vorstrukturiert und es erfolgt ein Labeling. Aufgrund dessen wird das Modell
entwickelt. Durch diese Vorgehensweise wird die Software robuster. Die Erfolge
und die Transparenz stiegen. Die Wartung ist leichter möglich.

Des Weiteren kann KI zur Extraktion von Inhalten aus großen
Dokumentenmengen und zur Klassifikation eingesetzt werden. Sie kann ein Dokument
auf Konsistenz untersuchen oder zwei Dokumente vergleichen. Sie kann zur
intelligenten Dokumentenverwaltung eingesetzt werden. Semantische Sprachmodelle
können Worte identifizieren, die eine ähnliche Bedeutung haben. Sie ermöglichen
die Suche nach Entitäten unter unterschiedlichen Namen. Bei der Topic
Identification bildet das System Cluster von Dokumenten, die einander ähnlich
sind, und sucht Wörter heraus, die in einem Cluster sind, in anderen aber nicht.
KI kann auch eine Tonalitätserkennung ermöglichen.

VI. Automatisierungstools für die Justiz

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Herr Rechtsanwalt Michael
Grupp
, Managing Director, BRYTER GmbH informierte über die
BRYTER Automationsplattform. Die BRYTER GmbH bietet eine Automatisionsplattform
für komplexes Expertenwissen an. Digitale Strukturen werden genutzt, um ein
Modell für die Entscheidungsfindung in einem bestimmten Bereich darzustellen.
Die Automatisierung kann mit Hilfe der Software durch jeden erfolgen, nicht nur
durch Entwickler. Das Wissen wird über einen graphischen Editor eingegeben und
visuell dargestellt. Die Oberfläche ist intuitiv. Es können Berechnungen oder
ein Zugriff auf externe Datenquellen, z.B. Wetter, Währungen etc., erfolgen. So
entsteht ein interaktives Modell. Es können Dokumente generiert werden und
Kommunikationsmittel direkt integriert werden. Bestehende Dokumentenvorlagen
können integriert werden. Die Software ermögliche den Austausch von
Wissen.

Die BRYTER GmbH hat den „Klagecheck“ der Verbraucherzentrale Bund
entwickelt, der zur Organisation der Sammelklage gegen die Volkswagen AG genutzt
wurde. Das Modul wurde auf der Website der Verbraucherzentrale veröffentlicht
und ermöglicht Verbrauchern, ihren Anspruch zu prüfen und zu entscheiden, ob sie
sich an der Sammelklage beteiligten wollen. Aktuell bauen die
Verbraucherzentralen 16 weitere Module. Bryter haben auch schon Anwendungen für
Rechtsanwaltskanzleien entwickelt. Die Anwendung ist für gleichgelagerte
Massenverfahren geeignet. In der Justiz kommt ein Einsatz wahrscheinlich vor
allem im Rechtspflegerbereich in Betracht.

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HinweisDieser Beitrag wird in der eBroschüre ERV 2/2020 fortgesetzt. Im
nächsten Teil wird über den „2. Workshop über die Möglichkeiten des
Einsatzes von Künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der Justiz“ berichtet,
der am 17.1.2020 in Berlin stattfand.Am 12.3.2020 findet ein weiter Workshop zu den Themen Künstliche
Intelligenz (KI) in der Justiz und Legal Tech statt. Nähere Informationen
finden Sie unter: https://www.edvgt.de/veranstaltungen/. Anmeldungen waren
zum Redaktionsschluss noch möglich.

Hinweis: Isabelle Désirée Biallaß ist
Referentin im Ministerium der Justiz Nordrhein-Westfalen. Der Beitrag gibt
ausschließlich ihre persönliche Auffassung
wieder.

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