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C. Modernisierung des Zivilprozesses

Auf Initiative des Präsidenten des OLG Nürnberg haben die Präsidentin des BGH, die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte und des Bayerischen Obersten Landesgerichts vor rund anderthalb Jahren eine Arbeitsgruppe zum Thema der „Modernisierung des Zivilprozesses“ mit dem Auftrag initiiert, verfahrensrechtlich-methodische Modernisierungsansätze für den Zivilprozess zu erarbeiten und zu beschreiben, ohne dabei die Problematik der technischen Machbarkeit in den Blick zu nehmen. Die Arbeitsgruppe hat Ende des Jahres 2020 ein über 100-seitiges Diskussionspapier vorgelegt. Die Justizministerkonferenz hat die Vorschläge begrüßt und das BMJV gebeten, zur deren Prüfung unter Einbeziehung früherer Vorschläge eine Expertenkommission unter Leitung des BMJV einzuberufen. Auf dem virtuell durchgeführten 1. Deutschen Zivilrichtertag am 2.2.2021 wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppe rund 2.000 Teilnehmern, die zum Teil auch abstimmen konnten, auf einem Video-Konferenzsystem sowie auf YouTube der juristischen Fachöffentlichkeit vorgestellt. Das Diskussionspapier ist auf der Homepage des federführenden Oberlandesgerichts Nürnberg verfügbar: https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf).

Der weitgreifendste Vorschlag des Diskussionspapiers ist der, ein Justizportal zu programmieren und zu errichten, das bundesweit als einheitlicher und sicherer elektronischer Zugang der Bürger zur Justiz und damit auch als sicherer und rechtlich zuzulassender Übermittlungsweg für Schriftsätze dienen soll. Ergänzt wird der Vorschlag dieses neuen Übermittlungswegs dadurch, dass die rechtssichere und rechtswirksame elektronische Übermittlung von Dokumenten ohne qualifizierte elektronische Signatur zugelassen werden soll. Dazu schlägt die Arbeitsgruppe vor, das wohlbekannte elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach nach Aufnahme des potentiellen Absenders in einen geschlossenen Benutzerkreis als sicheren Übermittlungsweg zuzulassen und zugleich die Bürger-Postfächer in den Verwaltungsportalen nach § 2 Abs. 2 Online-Zugangsgesetz als sicheren Übermittlungsweg vorzusehen. Diese beiden Vorschläge sieht ein Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_Ausbau-ERVV.pdf;jsessionid=4F306B5975DAC95A2D98ECB99A466A1F.1_cid289?__blob=publicationFile&v=2) bereits vor. Für die Anwälte soll die Kommunikation durch die Einrichtung eines Kanzlei- bzw. Organisationspostfachs vereinfacht werden. Auch dies ist wohl bereits in Arbeit.

Sinnvollerweise soll das neue Justizportal zugleich die bisherigen digitalen Angebote der Justiz, allen vorweg das online-Mahnverfahren, sowie ein nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe neu zu schaffendes beschleunigtes online-Klageverfahren und eine virtuelle Rechtsantragsstelle, die per Videokonferenz tätig sein soll, bündeln. Auch die Teilnahme an virtuellen Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz nach § 128a ZPO soll über das Portal möglich werden.

Für Videokonferenzen (siehe dazu auch den obigen Beitrag des Verf., Rdn 14, 20) wird vorgeschlagen, auch dem Gericht normativ zu gestatten, sich nicht zwingend im Gerichtssaal aufhalten zu müssen: Gerichtsverhandlungen aus dem Home-Office sollen möglich werden.

Ein wirklich innovativer und völlig neuer Vorschlag der Arbeitsgruppe ist die Schaffung eines verfahrensbezogenen elektronischen Nachrichtenraums, der jenseits der förmlichen Inhalte der elektronischen Akte etwa für Terminabsprachen oder den Austausch von Vergleichsvorschlägen dienen soll. Man muss sich diesen Vorschlag als Chat-Gruppe mit Aktenzeichen vorstellen. Ob man diesen Effekt nicht auch durch Zulassung der ungeliebten E-Mail-Kommunikation auf einfache Weise erreichen könnte, muss der weiteren Diskussion überlassen bleiben.

Den seit der Diskussion um das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs 2013 wohlbekannten Vorschlag der Abschaffung des Empfangsbekenntnisses und seine Ersetzung durch den automatisierten Zustellungsnachweis des EGVP-Systems der Justiz, den das E-Postsystem der Justiz ohnehin erzeugt, greift das Diskussionspapier auf. Die Anwaltschaft hat seinerzeit immer wieder vorgetragen, der Rücksendung des Empfangsbekenntnisses wohne ein „voluntatives Element“ inne – eine wunderbare Umschreibung der aus Sicht eines Justizjuristen nicht wirklich akzeptablen Möglichkeit, Fristen auszudehnen. Es wäre wichtig, einen millionenfachen Geschäftsprozess auf einfache Weise zu digitalisieren und damit einen Rationalisierungseffekt zu erzielen.

Eine der wichtigsten innovativen Gedanken der Arbeitsgruppe ist der Vorschlag der Einführung eines beschleunigten online-Gerichtsverfahrens, die auf der Grundlage intelligenter Eingabe- und Abfragesysteme funktionieren sollten, um damit endlich auch Bürgerinnen und Bürgern einen einfachen Zugang zum elektronischen Rechtsverkehr und den Möglichkeiten eines modernen Zugangs zum Recht zu eröffnen. Das online-Gerichtsverfahren soll vollständig elektronisch geführt werden, und es soll die Möglichkeit der Einrichtung zentraler online-Gerichte geschaffen werden. Das beschleunigte online-Gerichtsverfahren wird für Streitwerte bis 5.000 EUR bei Streitigkeiten zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern vorgeschlagen, für den Verbraucher als justizielles Angebot zur freiwilligen Nutzung, für die beklagten Unternehmen mit Benutzungszwang.

Der radikalste Vorschlag der Arbeitsgruppe ist der, den Vortrag der Parteien im Zivilprozess in einem von den Parteien gemeinsam bearbeiteten elektronischen Dokument darzustellen. Das Diskussionspapier bezeichnet dieses Dokument, das auch methodisch-inhaltlich durchaus als verfahrensrechtlich revolutionär bezeichnet werden darf, als „Basisdokument“. Die Idee: Der Vortrag soll in einer ausschließlich chronologisch (und nicht an den Merkmalen einer ausgewählten Anspruchsgrundlage orientiert) einen Lebenssachverhalt abbildenden Tabelle nach der Methode der Relation dargestellt werden. Die Gliederung des Lebenssachverhalts soll sich aus den notwendigen, den jeweiligen Sachverhaltsabschnitt anzuschließenden Beweisangeboten ergeben. Eine völlig neue Idee ist es dabei, dass späterer Sachvortrag zu einem bereits vorgetragenen Sachverhaltselement, an der chronologisch passenden Stelle und nicht am Ende des Dokuments eingetragen werden soll, so dass ein vollständig zusammenhängender Text zu dem vorgetragenen Sachverhalt entstünde. Dies würde die Arbeit mit dem Sachverhalt für alle Verfahrensbeteiligten in ungeahnter Weise vereinfachen und zugleich den durchaus beliebten inhaltlich redundanten Vortrag eliminieren. Der auf diese Weise methodisch genau aufeinander abgestimmt dargestellte Sachverhalt soll nach dem Vorschlag der Arbeitsgruppe auf übereinstimmende Erklärung der Parteien oder mit Schluss der letzten mündlichen Verhandlung verbindlich werden und mit einigen allgemeinverständlich erklärenden vorgeschalteten Sätzen den Tatbestand des Urteils ersetzen und damit auch im Bereich der Erstellung von Urteilen einen wichtigen und spürbaren Rationalisierungseffekt herbeiführen.

Aus Sicht des Verfassers ließen sich der „große“ Ansatz der Einführung eines Basisdokuments mit dem Gedanken der Schaffung eines online-Gerichtsverfahrens kombinieren, um auf der Grundlage elektronisch vorstrukturierter intelligenter Eingabeformulare den strukturierten Parteivortrag für ausgewählte typische Fallkonstellationen der Rechtspraxis in eine Erprobung und Pilotierung zu bringen. Denn: Wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet, gibt es blaue Flecken oder gar schlimmere Verletzungen. Wenn man aber etwas erfindet, das sich im Internet-Zeitalter als „sexy“ darstellt, was für gerichtliche Verfahren schon als vermessenes Wording erscheinen mag, dann wird sich das in der Praxis schnell und von alleine durchsetzen. Man muss es nur anbieten. Es kommt auf den Versuch an.

Die Themen in eine langwierige Expertenkommission zu verweisen, erscheint demgegenüber als „die lange Bank“. Höchst wünschenswert wäre es, die Vorschläge in die im Herbst anstehenden Koalitionsverhandlungen und in den Koalitionsvertrag einzubringen.

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