Beitrag

B. Die E-Akte an deutschen Landgerichten: Leistungsfähigkeit, Nutzen und Probleme

Spätestens zum 1.1.2022 sind Rechtsanwälte verpflichtet, Gerichten Dokumente auf elektronischem Weg zu übermitteln, wobei bereits diskutiert wird, das Wirksamwerden der Nutzungspflicht vorzuziehen. Den vollen Nutzen werden wirksam eingereichte digitale Schriftsätze in den Gerichten erst entfalten, wenn sie dort medienbruchfrei weiterbearbeitet werden können. Mit anderen Worten, digitalisierte Schriftsätze, die in den Gerichten zunächst ausgedruckt werden müssen, bevor sie bearbeitet werden können, bringen nicht den erhofften Effizienzgewinn. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass sich mit der Pilotierung an immer mehr Landgerichten der Einführungsprozess der E-Akte zunehmend dynamisch gestaltet. Dabei gibt es die eine E-Akte überhaupt nicht. Insgesamt existieren drei verschiedene E-Aktensysteme in der Justiz: erstens e2A (ergonomisch-elektronischer Arbeitsplatz), zweitens eIP (elektronisches Integrationsportal) und drittens eAS (E-Akte als Service). Gemeinsam ist den drei E-Aktensystemen, die jeweils in verschiedenen Länderverbünden zur Anwendung kommen, dass es sich um sogenannte Rahmenanwendungen handelt, in die sich andere Programme, die bislang schon bei Gericht verwendet werden, integrieren lassen.

Im Zuge der fortschreitenden Pilotierung gibt es zunehmend Rückmeldungen aus den Gerichten. Ein Erfahrungsbericht aus dem Landgericht Köln stellt dem e2A-System ein ausgesprochen gutes Zeugnis aus. Es bestünde die Möglichkeit, die E-Akte mit verschiedenen Werkzeugen zu strukturieren: Es würden sich virtuelle Markierungen, Lesezeichen und Textanmerkungen setzen lassen. Dabei könne man nach persönlichen Anmerkungen und solchen, die für die gesamte Kammer sichtbar seien, unterscheiden. Auch gäbe es eine komfortable Suchfunktion und eine Normanalyse, die automatisch alle in den Schriftsätzen zitierten Vorschriften erkenne und aufliste. Gelobt wird auch die Möglichkeit, dass verschiedene Zugriffsberechtigte gleichzeitig von unterschiedlichen Standorten mit der E-Akte arbeiten können. Es gäbe „nicht mehr nur die ‚eine Akte‘“. Insgesamt wird dem Arbeiten mit der E-Akte von den Autoren „[m]ehr Flexibilität und Attraktivität“ attestiert.

Der Erfahrungsbericht stimmt also zuversichtlich, was die zukünftige Arbeit in den Gerichten und den weiteren Rollout angeht. Denn die Akzeptanz der E-Akte hängt von den mit ihr verbundenen Arbeitserleichterungen und der Benutzerfreundlichkeit ab. Von anderer Seite wird jedoch auch auf mögliche Schattenseiten verwiesen: Mit der Digitalisierung werde eine Leistungskontrolle technisch leichter möglich, wobei die Richterräte in diesem Bereich über verschiedene Mitbestimmungsrechte verfügen. Gleichfalls werden Arbeitsplatzverluste befürchtet, und von einem Verlust an persönlicher Kommunikation wird berichtet, was dann auch zu weniger körperlicher Bewegung führe. Aus einer entsprechenden Studie zu Bürgerämtern ist bekannt, dass gut 70 % der Befragten von einer hohen oder sehr hohen Arbeitsbelastung durch den Ausfall der IT oder der Software berichten.

I.Bundesweite Studie zur Einführung der E-Akte an Landgerichten

Bei den erwähnten Rückmeldungen handelt es sich meist um Befunde aus einzelnen Gerichten. Um die Erkenntnisse auf eine breitere Basis stellen zu können, wurde jetzt in einer bundesweiten, online gestützten Umfrage an zahlreichen Landgerichten, an denen bereits länger als sechs Monate mit der E-Akte gearbeitet wurde, nach den Erfahrungen der Richterinnen, Richter und Servicekräfte mit der E-Akte gefragt. Gleichzeitig wurden Richterinnen und Richter sowie Servicekräfte an Landgerichten, die noch nicht mit der E-Akte arbeiten, nach ihren Erwartungen und Befürchtungen befragt. Die Online-Umfrage wurde nach umfangreichen Vorarbeiten an insgesamt 46 Landgerichten vom 21. 7. bis einschließlich den 11.9.2020 anonym durchgeführt. Da sich leider acht Landgerichte nicht beteiligt haben oder sich aufgrund der Verweigerung der Zustimmung durch das zuständige Oberlandesgericht nicht beteiligen durften, haben letztendlich aus 38 Landgerichten aller Bundesländer 666 Personen den Fragebogen vollständig ausgefüllt. Angesichts des sensiblen Themas darf die Rücklaufquote von rund 20 % als hoch eingestuft werden. An anderer Stelle haben wir bereits die Erwartungen der noch nicht mit der E-Akte arbeitenden Richterinnen und Richter den tatsächlichen Erfahrungen der bereits mit der E-Akte arbeitenden Richterinnen und Richter gegenübergestellt. Das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: Für die meisten untersuchten Kategorien waren die Nutzenerwartungen, aber auch die Nachteilsbefürchtungen stärker ausgeprägt als sie sich dann tatsächlich bei den Richterinnen und Richtern mit E-Akte Erfahrungen eingestellt haben. Im Nachfolgenden sollen die Antworten der Richterinnen und Richter an Pilotgerichten auf Fragen nach der Leistungsfähigkeit der E-Akte, ihrem Nutzen und Problemen mit ihr dargestellt werden.

1.Leistungsfähigkeit der E-Akte

Die Leistungsfähigkeit der E-Aktensysteme wird im Großen und Ganzen positiv bewertet. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, finden sich die höchsten Zustimmungswerte für die Hardwareausstattung. Immerhin stimmen 69 % der Befragten der Aussage voll und ganz oder eher zu, dass die Hardwareausstattung am Arbeitsplatz ausreichend sei. Nicht ganz so gut sind mit 55 % die Zustimmungswerte für die Ausstattung in den Sitzungssälen. Die Funktionsfähigkeit, die intuitive Bedienbarkeit und der Umfang der vorhandenen Funktionen wird eher positiv beurteilt, obwohl die Prozentsätze für die eher kritischen Einschätzungen durchaus auf Verbesserungsmöglichkeiten verweisen. Probleme scheint es hingegen mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit der E-Akte zu geben. Hier stimmen immerhin 65 % selbst der zurückhaltenden Aussage, die „Verarbeitungsgeschwindigkeit der E-Akte ist ausreichend“, gar nicht oder eher nicht zu. Auch bei dem Zusammenspiel mit Fachanwendungen sehen 46 % der antwortenden Richterinnen und Richter Anlass zu Kritik. Insgesamt liegt damit die Leistungsfähigkeit der E-Aktensysteme jedoch deutlich besser als in den von Bogumil u.a. untersuchten Bürgerämtern.

alt data

Abbildung 1: Leistungsfähigkeit der E-Akte. Angaben in %.

Quelle: Nicolai Dose/Leon A. Lieblang, Einführung der elektronischen Akte in der Justiz, 2020, 28.

2.Nutzen der E-Akte

Als sehr oder eher nützlich bewerten die Richterinnen und Richter insbesondere die ständige Verfügbarkeit der E-Akte (84 %) sowie die Möglichkeit des Arbeitens von zu Hause aus (82 %). Dass die Zustimmungswerte beim letzten Aspekt so ausgeprägt sind, überrascht zunächst etwas. Denn prinzipiell konnten Richterinnen und Richter bereits vorher von zu Hause aus arbeiten. Offenbar wird sehr geschätzt, dass die Akten nicht mehr mühsam transportiert werden müssen und dass vorab nicht mehr penibel geplant werden muss, welche Aktenteile man mitnimmt. Etwas niedriger liegen die Zustimmungswerte für entsprechende Aussagen zur Möglichkeit des parallelen Arbeitens mehrerer Personen an der E-Akte (66 %) und dass ein Verlust der E-Akte nicht mehr möglich ist (63 %).

alt data

Abbildung 2: Nutzen der E-Akte. Angaben in %.

Quelle: Nicolai Dose/Leon A. Lieblang, Einführung der elektronischen Akte in der Justiz, 2020, 29.

Wie Abbildung 2 gleichfalls verdeutlicht, wird der Nutzen bei den anderen abgefragten Kategorien weniger ausgeprägt gesehen. So geben immerhin 63 % der Richterinnen und Richter, welche die E-Akte verwenden, den Nutzen für die persönliche Arbeitsentlastung als sehr gering oder eher gering an. Damit sehen fast zwei von drei Richterinnen und Richtern keine oder fast keine Verbesserung bei der Arbeitsentlastung. Hier hätte man natürlich bessere Werte erwartet. Aber das Verfassen von Urteilen ist immer noch vor allem eine intellektuelle Leistung, bei der sich mit dem bisherigen Leistungsangebot der E-Akte offensichtlich kaum Entlastungen schaffen lassen. Die Beurteilung der Werkzeuge für die Durchdringung der Akten verweist noch auf Verbesserungspotenzial. Ebenfalls vergleichsweise schlecht, aber besser als bei der Durchdringung fällt der empfundene Nutzen für das effiziente Durchsuchen der Akten, die Vernetzung mit Datenbanken und den Rückgriff auf vergangene Entscheidungen aus.

3.Probleme mit der E-Akte

Dass der Umstieg von der Papierakte auf die E-Akte manchem schwerfällt, zeigt sich bei den Antworten nach verschieden Problemen mit der E-Akte. Denn wie in Abbildung 3 verdeutlicht, vermissen insgesamt 53 % der befragten Richterinnen und Richter oft oder ständig das haptische Erlebnis, das sich beim Arbeiten auf Papier einstellt.

alt data

Abbildung 3: Probleme mit der E-Akte. Angaben in %.

Quelle: Nicolai Dose/Leon A. Lieblang, Einführung der elektronischen Akte in der Justiz, 2020, 30.

Dass technische Einschränkungen auch bei den Fragen nach Problemen mit der E-Akte eine herausgehobene Rolle spielen (63 % erfahren diese oft oder ständig), korrespondiert mit einigen eher kritischen Einschätzungen der technischen Leistungsfähigkeit der E-Akte. Auch werden bei mehr als einem Drittel (37 %) die Arbeitsabläufe oft oder ständig durch Updates gestört, und bei zusätzlich 32 % ist dies gelegentlich der Fall. Auch berichten 29 % über die ständig oder oft auftretende Häufung von Fehlern durch die Arbeit am Bildschirm – insbesondere vor dem Hintergrund der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen ist dies ein hoher Wert. Von besonderer Bedeutung sind mögliche gesundheitliche Probleme, die von der Einführung der E-Akte ausgehen können. Tatsächlich gibt fast die Hälfte der Richterschaft (47 %) an, durch die Arbeit mit der E-Akte seien diese gelegentlich, oft oder ständig aufgetreten. Glücklicherweise ist die Mittelkategorie des gelegentlichen Auftretens gesundheitlicher Probleme mit 30 % vergleichsweise stark ausgeprägt, sodass sich lediglich bei 17 % Gesundheitsprobleme oft oder ständig einstellen. Dennoch sollten diese Zahlen Grund genug sein, um verstärkt über Abhilfe nachzudenken. Schließlich geben 38 % an, oft oder ständig vorzeitig zu ermüden. Zudem erhöht die E-Akte in manchen Fällen den Arbeitsdruck: 37 % berichten von einer oft oder ständig erhöhten Erwartungshaltung an die Arbeitsgeschwindigkeit und 18 % sogar von oft oder ständig auftretenden Arbeits- und Leistungskontrollen. Bei 38 % sind Arbeits- und Leistungskontrollen hingegen nie aufgetreten.

II.Fazit

Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse der Umfrage, dem auch 80 % der Richterinnen und Richter voll und ganz oder eher zustimmen, dass die E-Akte die Zukunft ist. Allerdings verdeutlicht eine differenzierte Betrachtung, dass die Zukunft der E-Akte erst dann zufriedenstellend sein wird, wenn die Leistungsfähigkeit und der Nutzen erhöht sowie die Probleme gelöst werden. Natürlich ist es nicht realistisch, bei allen Einzelkategorien Bestwerte zu erreichen und für jedes der genannten Probleme eine Lösung zu finden. Bei der Abschichtung der Probleme lassen sich drei verschiedene Problemgruppen unterscheiden: Erstens bestehen technische Probleme, der sich die Softwarehersteller annehmen sollten. Folglich sollte die Verarbeitungsgeschwindigkeit erhöht werden, die Aktendurchdringung beispielsweise durch den Einsatz künstlicher Intelligenz bei etwa der Wissensextraktion aus unstrukturierten Dokumenten verbessert werden sowie ungesteuerte Updates nicht weiter den Arbeitsfluss behindern. Dies sind größtenteils lösbare Herausforderungen, die sich im Prinzip bewältigen lassen sollten. Bei Erfolg ist eine substanzielle Steigerung der Zufriedenheit der Anwenderinnen und Anwender zu erwarten. Zweitens existieren Probleme, die stets mit digitalen Anwendungen einhergehen. Dies betrifft etwa gesundheitliche Beeinträchtigungen und vorzeitiges Ermüden durch die Arbeit am Bildschirm. Sie könnten Anlass sein, über Kompensationen der von der Bildschirmarbeit ausgehenden Belastung nachzudenken und die entsprechende Forschung zu intensivieren. Von Bedeutung könnten hier sowohl Bildschirme höchster Qualität als auch Anleitungen zu einer bewegten Pause sein. Schließlich sollte eine für die Akzeptanz der E-Akte schädliche technisch unterstützte Arbeits- und Leistungskontrolle verhindert werden. Gleichzeitig muss akzeptiert werden, dass manche Dinge, wie beispielsweise die fehlende Haptik, nicht geändert werden können. Abgesehen von diesen Aspekten ist jedoch von Vorteil, dass diese Problemkategorie auch bei anderen Digitalisierungsprojekten auftritt und somit eine Chance besteht, dort gewonnene Erkenntnisse zu übertragen. Drittens treten Probleme auf, die in einem engen Zusammenhang mit der Einführung der E-Akte in der Justiz stehen. Zwar besteht ein Bezug zur Digitalisierung, die Probleme werden jedoch durch die spezifische Arbeit an den Gerichten verstärkt. Hierzu zählt etwa die Ausstattung mit Technik in den Sitzungssälen und deren reibungslose Bedienung sowie die Vernetzung mit juristischen Datenbänken. Da Rückgriffe auf Erkenntnisse aus anderen Projekten damit weitgehend ausgeschlossen sind, ist eine genaue Kenntnis der Einschätzung der Richterschaft notwendig, um basierend auf Erwartungen passend zugeschnittene Lösungen zu entwickeln. Hierfür bieten die dargelegten Ergebnisse und die zugrundeliegende Studie exklusive und wichtige Ansatzpunkte.

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…