Es ist wohl kaum jemandem bewusst: Videokonferenzen in gerichtlichen Verfahren sind bereits seit rund 20 Jahren rechtlich zugelassen (Gesetz vom 27.7.2001, BGBl I S. 1887). In der Praxis spielten sie allerdings kaum je eine Rolle, zumal sie ISDN-Videoanlagen erforderten, die allenfalls an großen Justizstandorten oder bei großen Behörden installiert waren. Jedenfalls nicht in der durchschnittlichen Anwaltskanzlei. Zudem setzte das Gesetz in seiner ersten Fassung einen übereinstimmenden Antrag der Parteien voraus. Angesichts dieser Hürden spielte der Videoeinsatz in gerichtlichen Verfahren allenfalls bei der Vernehmung von Auslandszeugen in Strafsachen sowie bei der Vernehmung kindlicher Opferzeugen eine nennenswerte Rolle.
Bei seinerzeit immer noch technisch unveränderter Situation ließ das Gesetz zur Intensivierung des Videoeinsatzes in gerichtlichen Verfahren aus dem Jahr 2013 (BGBl I, 2013, 935), das auf eine von Hessen bereits im Jahr 2007 (BT-Drucks 643/07 – Beschluss) initiierte Bundesratsinitiative zurückging, zu, dass das Gericht ohne Antrag von Amts wegen Video-Konferenzen in zivilgerichtlichen Verfahren terminieren durfte. Am verschwindend geringen Einsatz von Videotechnik in gerichtlichen Verfahren änderte dies allerdings kaum etwas, auch nicht, als vielfach auch die qualitativ höchst ansprechende IP-Videotechnik verfügbar wurde – aber wer hat schon so eine (teure) Anlage in der Kanzlei oder im Amtsgericht auf dem Lande? Es war schon damals klar, dass der Videoeinsatz in gerichtlichen Verfahren erst dann einen Durchbruch haben dürfte, wenn Video mit einfachen Mitteln vom eigenen Arbeitsplatzrechner des Richters und des Rechtsanwalts aus möglich würde.
In der Pandemie wurde im Jahr 2020 die Vorschrift des § 128a ZPO, wie vielleicht auch die Parallelvorschriften in den anderen Verfahrensordnungen, für die ich aber nicht kompetent sprechen kann, endlich entdeckt. Einige Landesjustizverwaltungen führten Video-Kommunikationssysteme für Richter- und Rechtspfleger-Arbeitsplätze ein, wie wir sie schon seit vielen Jahren aus dem Internet und aus dem Chat mit den Kindern und Enkeln kennen: Einfach zu bedienendes Internet-Video vom Arbeitsplatzrechner aus. Da war es plötzlich.
Und natürlich waren es vorrangig zunächst die jüngeren Richterinnen und Richter, die die Technik ausprobierten. Die Erfahrungen waren überraschend gut: Während man auf Seiten vieler Anwaltsbüros technisch mit der Durchführung einer Videokonferenz kämpfte, war das Justizsystem, jedenfalls bei uns in Hessen, überwiegend stabil und zuverlässig. Ich selbst habe sehr gute Erfahrungen mit Kammerberatungen über die Videokonferenz gemacht, und viele Richterinnen und Richter, die vor allem zunächst für Beweisaufnahmen skeptisch waren, haben tatsächlich auch Zeugenvernehmungen per Video durchgeführt und die Ergebnisse für gut verwertbar gehalten. Die Tendenz, Sitzungen in Zivilsachen per Video durchzuführen, ist nach wie vor steigend. Auch die Strafvollstreckungskammern entdeckten die Videokonferenz erfolgreich als Möglichkeit, Anhörungen in physischer Präsenz in der forensischen Unterbringung, im Gericht oder in der JVA zu vermeiden.
In Zivilsachen offenbarte sich rasch die Tücke der gesetzlichen Formulierung: § 128a ZPO erlaubt es dem Gericht, den Parteien die Teilnahme per Videokonferenz von einem anderen Ort aus „zu gestatten“. Daraus schließt bereits die Gesetzesbegründung aus dem Jahr 2013, dass es den Parteien nicht verwehrt werden kann, trotz einer Ladung zur Videokonferenz physisch und persönlich im Gericht zu erscheinen (BT-Drucks 17/12418, S. 14). Davon machten in der Tat nicht wenige Verfahrensbeteiligte Gebrauch, Verfahrensbevollmächtigte vielleicht in der Intention, sich gegenüber einem zugeschalteten Kollegen einen Vorteil zu verschaffen. Im Gericht führte dies im Sitzungssaal zu der Problematik, den physisch anwesenden Verfahrensbeteiligten Zugang zur Bildübertragung zu verschaffen und insbesondere auch die Möglichkeit zu Wortbeiträgen in technisch akzeptabler Weise zu gewähren. Es liegt auf der Hand, dass das in der Not praktizierte Hochhalten und Umdrehen des richterlichen Notebooks keine sinnvolle und zumutbare Variante des Verhandelns sein kann, schon gar nicht auf Dauer. Es wurden daher in Windeseile in vielen Gerichtssälen, aber natürlich nicht in allen, zusätzliche Wandmonitore, Raumkameras und Raummikrofone installiert, um dieses Problems (qualitativ erfolgreich, quantitativ verbesserungswürdig) Herr zu werden.
Eine Alternative zu technischer Ausstattung wäre daher eine Änderung des Gesetzes, das ersichtlich in einer Zeit formuliert wurde, als Skype und Co. für die Gerichte nicht einmal zukunftsgerichtet gedanklich eine Perspektive waren. Während in früherer Zeit die Ausstattung mit Videoanlagen in Anwaltsbüros und Behörden gewiss eine extreme Ausnahme gewesen sein dürfte, ist es aus heutiger Sicht keine unzumutbare Anforderung an die Berufsausübung, das Vorhalten eines Internetanschlusses und eines videofähigen PCs vorauszusetzen. Das Gesetz sollte daher dringend dahingehend angepasst werden, dass das Gericht die Durchführung von Video-Sitzungen bindend anordnen kann und eine Pflicht der Verfahrensbevollmächtigten normiert wird, die Möglichkeit zur Teilnahme an derartigen Sitzungen vorzuhalten oder zu organisieren. Dabei sollte nicht vergessen werden, auch die Naturalparteien selbst einzubeziehen, sei es über die Videokonferenz des Anwalts oder mit eigenem Zugang.
Darüber hinaus ist gerade in der Zeit der Pandemie die Frage zu stellen, ob nicht auch dem Gericht selbst – wie durch die derzeitige Gesetzesfassung verwehrt – ermöglicht werden sollte, jenseits des Sitzungssaals und des eigenen Dienstzimmers die Sitzung von einem anderen Ort aus, etwa aus dem Home-Office, zu führen (so auch der Vorschlag der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ der Präsidentin des BGH und der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte und des Bayerischen Obersten Landesgerichts: https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf). Dabei stellt sich natürlich die Frage der Gewährleistung der Öffentlichkeit. Hierfür sind unterschiedliche Lösungen denkbar: Zum einen ist es bekannte Übung, im Gericht Einsichtsbildschirme zur Verfügung zu stellen, zum anderen könnte die Möglichkeit des im schriftlichen Verfahren der ZPO optionalen einvernehmlichen Verzichts der Parteien auf die Öffentlichkeit Pate stehen. Möglicherweise kann auch eine Mischung dieser Varianten Ergebnis eines politischen Abwägungsprozesses sein.
Sicher erscheint: Die Durchführung von Videokonferenzen in zivilprozessualen gerichtlichen Verfahren sollte sich weiter durchsetzen, nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse der Anwaltschaft, die durch die Einsparung von Anreisen zu gerichtlichen Verhandlungen einen enormen volkswirtschaftlichen Gewinn und natürlich einen immensen Zeitgewinn haben müsste.
Wenn Sie mir eine persönliche Bemerkung gestatten: Ich selbst bin vor vielen Jahren aus dem Anwaltsberuf ausgeschieden, weil ich die sinnlose Anreise zu Zivilverhandlungen, in denen es im Wesentlichen lediglich zur Aufnahme der Anträge gekommen ist, aus den Elementen eines erfüllenden Berufslebens ausgeschieden habe.
Es wäre wichtig, wenn sich die Justiz schon vor der gewiss schmerzhaften Einführung elektronischer Akten zumindest in Teilen ihres Verfahrens vom 19. in das 21. Jahrhundert begeben würde.
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