Im Falle einer Quarantäneanordnung während eines bewilligten Urlaubs sind die Urlaubstage nachzugewähren.
[Redaktioneller Leitsätze]
LAG Hamm, Urt. v. 27.2.2022 – 5 Sa 1030/21
I. Der Fall
Die Parteien streiten über die Nachgewährung von acht Urlaubstagen für das Jahr 2020. In der Zeit vom 12.10. bis zum 21.10.2020 gewährte die Beklagte dem Kläger antragsgemäß acht Tage Urlaub. Am 14.10.2020 erließ die zuständige Behörde eine Ordnungsverfügung, mit der sie die Absonderung des Klägers in häusliche Quarantäne für die Zeit vom 9.10. bis zum 21.10.2020 anordnete, da der Kläger Kontakt mit einer an COVID-19 erkrankten Person hatte. Die Beklagte wurde unverzüglich vom Kläger über die angeordnete Quarantäne informiert. Dennoch zog die Beklagte acht Urlaubstage vom Urlaubskonto des Klägers ab. Auf die mehrfache Aufforderung des Klägers, die acht Urlaubstage seinem Urlaubskonto wieder gutzuschreiben, reagierte die Beklagte nicht.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Gutschrift von acht Urlaubstagen auf seinem Urlaubskonto.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen (ArbG Hagen, Urt. v. 28.7.2021 – 2 Ca 2784/20). Die hiergegen beim LAG eingelegte Berufung hatte Erfolg.
II. Die Entscheidung
Das LAG Hamm stützt seine Entscheidung auf eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG. Bei dem Zusammentreffen bereits gewährten Urlaubs und einer nachträglichen Anordnung einer Quarantäne sei eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG geboten. Dem stehe die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht entgegen, da sie eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG nur grundsätzlich ausschließe. Im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Erhalt von Urlaubsansprüchen gerade im Falle einer langandauernden Erkrankung müsse Urlaub auch im Falle einer angeordneten Quarantäne nachgewährt werden.
Das LAG Hamm hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage und mehrerer abweichender Entscheidungen anderer Landesarbeitsgerichte zugelassen.
III. Der Praxistipp
Mit seiner Entscheidung stellt sich das LAG Hamm gegen zahlreiche bislang ergangene erst- und zweitinstanzliche Entscheidungen (vgl. LAG Düsseldorf, Urt. v. 15.10.2021 – 5 Sa 857/21, LAG Köln, Urt. v. 13.12.2021 – 2 Sa 488/21, LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 15.2.2022 – 1 Sa 208/21, ArbG Bonn, Urt. v. 7.7.2021 – 2 Ca 504/21, ArbG Neumünster, Urt. v. 3.8.2021 – 3 Ca 362b/21, ArbG Halle, Urt. v. 23.6.2021, 4 Ca 285/21 und ArbG Bremen – Bremerhaven, Urt. v. 8.6.2021, 6 Ca 6035/21). Tenor aller Entscheidungen war, dass eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG bei einer behördlichen Quarantäneanordnung ausscheide. Es liege weder eine planwidrige Regelungslücke noch ein mit einer Arbeitsunfähigkeit vergleichbarer Sachverhalt vor.
Neben dem LAG Hamm haben auch das LAG Düsseldorf, das LAG Köln und das LAG Schleswig-Holstein die Revision zugelassen. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darf daher mit Spannung erwartet werden. Bis zur Klärung der Rechtsfrage durch das Bundesarbeitsgericht sollten Arbeitgeber bereits genehmigte Urlaubstage im Falle einer späteren Quarantäneanordnung (vorerst) nicht nachgewähren.
Dr. Tilman Isenhardt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, isenhardt@michelspmks.de