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LAG Nürnberg: Fristlose Tat- und Verdachtskündigung – Diebstahl – Nachträgliche Anhörung des Betriebsrates

1. Ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung kann darin liegen, dass der Arbeitnehmer aus dem Warenbestand des Arbeitgebers Waren zum Eigenverbrauch entnimmt oder dem dringenden Verdacht unterliegt, dies zu tun.

2. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers durch eine verdeckte Videoüberwachung muss nach § 26 BDSG dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Der Arbeitgeber muss deshalb vor der Installation der verdeckten Videokamera die dafür geeigneten und ihm zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft haben, den möglichen Täterkreis mit entsprechenden Verdachtstatsachen einzugrenzen.

3. Hat der Arbeitgeber den Betriebsrat nur zu einer Tatkündigung angehört, so kann er die Kündigung im gerichtlichen Verfahren nur auf den bloßen Verdacht der entsprechenden Handlung stützen, wenn er den Betriebsrat auch zu den entsprechenden Verdachtsmomenten angehört hat. Nur bei nachträglichem Bekanntwerden neuer Verdachtstatsachen kann der Arbeitgeber den Betriebsrat dazu nachträglich anhören und den Verdacht der entsprechenden Handlung als Kündigungsgrund im gerichtlichen Verfahren nachschieben (Anschluss an BAG v. 16.7.2015 – 2 AZR 85/15).

[Amtliche Leitsätze]

LAG Nürnberg, Urt. v. 8.12.2020 – 7 Sa 226/20

I. Der Fall

Die Beklagte kündigte den Kläger am 4.1.2020 außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich sowie mit Schreiben vom 13.1.2020 erneut hilfsweise ordentlich wegen Diebstahls von zwei 0,04 l Flaschen Jägermeister.

Der Kläger war im Großhandelslager der Beklagten als Kommissionierer beschäftigt. Den Getränke- und Spirituosenbereich ihres Großhandelslagers überwachte die Beklagte per Videokamera, nachdem es dort in der Vergangenheit wiederholt zu Fehlbeständen gekommen war. Am 22.12.2019 stellten zwei Schichtführer das Fehlen von zwei 0,04 l Jägermeisterflaschen fest, nachdem sie gesehen hatten, dass der Kläger sich im Getränke- und Spirituosenbereich aufgehalten hatte. Der Kläger wurde bei seinem Aufenthalt in dem Gang mit den Jägermeisterflaschen von der versteckt angebrachten Videokamera gefilmt. Am 27.12.2019 wurde der Kläger mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe sich die Jägermeisterfläschchen angeeignet. Der Kläger stritt den Vorwurf ab.

Die Beklagte hörte den für das Großhandelslager zuständigen Betriebsrat am 30.12.2019 zu der von ihr beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung wegen Diebstahls von zwei Jägermeisterfläschchen an. Der Betriebsrat teilte am 2.1.2020 mit, zu den beabsichtigten Kündigungen keine Stellungnahme abzugeben. Die Beklagte kündigte daraufhin mit Schreiben vom 4.1.2020 außerordentlich und fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin sowie mit weiterem Schreiben vom 13.1.2020 erneut hilfsweise ordentlich zum 20.2.2020.

Im Rahmen der vom Kläger fristgerecht eingereichten Kündigungsschutzklage widersprach der Kläger der Verwertung der Videoaufzeichnung der Beklagten vom 20.12.2019.

Die vor dem ArbG Würzburg erhobene Kündigungsschutzklage gegen die ausgesprochenen Kündigungen hatte Erfolg (Urt. v. 7.5.2020 – 4 Ca 65/20). Die hiergegen von der der Beklagten eingelegte Berufung blieb erfolglos (LAG Nürnberg, Urt. v. 8.12.2020 – 7 Sa 226/20).

II. Die Entscheidung

Ebenso wie das Erstgericht erachtete auch das LAG Nürnberg die Kündigung des Klägers für unwirksam. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Diebstahls habe die Beklagte nicht darlegen und beweisen können. Der Kläger habe den Diebstahl bestritten. Tatzeugen für den dem Kläger vorgeworfenen Diebstahl habe die Beklagte nicht angeboten. Auch aus den von der Beklagten vorgetragenen Begleitumständen ergebe sich zur Überzeugung des Gerichts kein Diebstahl.

Die Videoaufnahme der Beklagten könne nicht verwertet werden. Die Videoaufnahme verletze das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung. Unabhängig von der Verwertbarkeit der Bildaufnahmen nach den datenschutzrechtlichen Bestimmungen scheitere die Verwertung an der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Eine Verwertung heimlicher Videoaufnahmen komme nur dann in Betracht, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Vertragsverletzung zu Lasten des Arbeitgebers bestehe, weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachtes ergebnislos ausgeschöpft seien, die heimliche Kameraüberwachung damit das praktisch einzig verbleibende Mittel darstelle und dieses insgesamt nicht unverhältnismäßig sei. Nach dem Vortrag der Beklagten sei jedoch nicht ersichtlich, ob nicht noch andere Mittel zur Eingrenzung des Kreises der Tatverdächtigen möglich gewesen wären. Die Videoaufnahmen seien daher nicht verwertbar. Es fehle somit an einem Tatnachweis.

Die von der Beklagten vorgetragenen Umstände könnten zwar einen Verdacht gegen den Kläger begründen, jedoch sei der Betriebsrat nur zu einer Tatkündigung angehört worden. Die außerordentliche und hilfsweise ordentliche Kündigung vom 4.1.2020 sei daher insgesamt rechtsunwirksam; im Hinblick auf die Kündigung wegen Diebstahls mangels Tatnachweises, im Hinblick auf eine Kündigung wegen des Verdachtes des Diebstahls mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats. Auch die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 13.1.2020 erweise sich als rechtsunwirksam. Zu dieser Kündigung sei der Betriebsrat nicht erneut angehört worden.

III. Der Praxistipp

Die Entscheidung des LAG Nürnberg liegt auf der Linie des BAG. Sie zeigt einmal mehr, welch hohen Anforderungen Arbeitgeber sowohl beim Nachweis einer Tatkündigung als auch bei einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung gerecht werden müssen.

Die Überwachung von Arbeitnehmern per Video erfordert, worauf das LAG Nürnberg zu Recht hinweist, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das heißt, die Videoüberwachung muss einem legitimen Zweck (präventive oder repressive Kontrolle) dienen, geeignet sein, diesen Zweck zu erfüllen, und erforderlich sein. Es darf also kein anders, gleich wirksames milderes Mittel zur Verfügung stehen. Anders gewendet: nur wenn die Videoüberwachung alternativlos ist, kommt sie in Betracht. Aber auch dann muss stets noch eine Abwägung stattfinden, ob das Interesse des Arbeitgebers an der Aufzeichnung den damit verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers tatsächlich rechtfertigt. Insoweit kommt es insbesondere auf die Intensität der im Raum stehenden Pflichtverletzung an.

Auch bei vermeintlich eindeutigen, hieb- und stichfesten Kündigungssachverhalten ist es ratsam, die Kündigung – zumindest auch – auf den Verdacht gegen den Arbeitnehmer zu stützen und den Betriebsrat auch hierzu anzuhören. Das setzt freilich unter anderem auch voraus, den Arbeitnehmer im Vorfeld zu dem konkreten Verdacht anzuhören. Tut man dies nicht, setzt man alles auf die Karte und schränkt die Erfolgsaussichten unnötig ein.

Peter Hützen, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

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