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LAG Berlin-Brandenburg: Gesamtbetriebsratssitzung als Präsenzsitzung in Coronazeiten?

1. § 129 Abs. 1 BetrVG ermöglicht es dem Betriebsrat und den übrigen dort genannten Arbeitnehmervertretungen für die Durchführung von Sitzungen auf Video- und Telefonkonferenzen zurückzugreifen. Die Nutzung solcher Teilnahmemöglichkeiten tritt als zusätzliche Option neben die hergebrachte Durchführung von Sitzungen unter physischer Anwesenheit der Teilnehmer vor Ort. Ein grundsätzlicher Vorrang der Durchführung als Telefon- oder Videokonferenz kann aus der Vorschrift nicht hergeleitet werden.

2. Offen bleibt, ob im Einzelfall und unter außergewöhnlichen Umständen der Betriebsrat oder eine der übrigen in § 129 Abs. 1 BetrVG genannten Arbeitnehmervertretungen zu einer Sitzungsdurchführung unter Nutzung von Teilnahmemöglichkeiten mittels Telefon- oder Videokonferenz angehalten sein kann.

[Amtliche Leitsätze]

LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.8.2020 – 12 TaBVGa 1015/20

I. Der Fall

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz darüber, ob die Arbeitgeberin die Durchführung von Sitzungen des Gesamtbetriebsrats und des Gesamtbetriebsausschusses als Präsenzsitzung untersagen darf. Die Arbeitgeberin betreibt Rehabilitationskliniken.

Seit Ende März 2020 führten der Gesamtbetriebsrat und seine Ausschüsse Sitzungen als Telefonkonferenzen durch. Die für Mitte August 2020 vorgesehene mehrtägige Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses beschlossen Vorsitzender und Stellvertreter des Gesamtbetriebsrats als Präsenzsitzung durchzuführen. Mitte Juli 2020 kam es bei der Arbeitgeberin zu einer Infektion mit dem Coronavirus. In der Folge mussten insgesamt 130 Patienten unter Quarantäne gestellt werden. Daraufhin beschloss die Arbeitgeberin, allen Arbeitnehmern die Teilnahme an klinikübergreifenden Präsenzveranstaltungen zu untersagen. Dies umfasse Betriebsrats- und Ausschusssitzungen, die über die Zusammenkunft von Mitarbeitern von mehr als einer Klinik hinausgingen. Im Hinblick auf die Kosten der geplanten Präsenzsitzung wiederrief sie auch die Kostenzusage.

Mit Antrag an das Arbeitsgericht vom 7.8.2020 hat der Gesamtbetriebsrat ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eingeleitet und insbesondere einen Unterlassungsanspruch geltend gemacht, wonach es die Arbeitgeberin unterlassen soll, Präsenzsitzungen und insbesondere die für Mitte August beschlossene Sitzung zu untersagen.

Den Verfügungsanspruch leitet der Gesamtbetriebsrat aus dem Verbot der Behinderung der Arbeit der Mitglieder des Gesamtbetriebsrates her. Der Gesamtbetriebsrat hat vor dem Arbeitsgericht geltend gemacht, er selbst bzw. sein Vorsitzender legten eigenständig fest, wann und in welcher Form Sitzungen durchgeführt würden. Rechtsvorschriften zur Eindämmung der Pandemie stünden der Durchführung der Sitzung nicht entgegen. Begleitend hat er geltend gemacht, die Arbeitgeberin müsse es unterlassen, den Verdienst bzw. das Arbeitszeitguthaben von Teilnehmenden zu kürzen oder das für die Sitzung gebuchte Hotel zu stornieren. Außerdem sollte die Arbeitgeberin verpflichtet werden, Tagungs- und Hotelkosten zu tragen.

Die Arbeitgeberin hat vor dem Arbeitsgericht die Zurückweisung der Anträge beantragt. Sie hat dort auf das Infektionsgeschehen bei den von ihr beschäftigten Ärzten sowie auf die insgesamt wieder ansteigende Zahl von Infektionen mit dem COVID-19 Virus hingewiesen. Die Untersagung klinikübergreifender Zusammenkünfte von Mitarbeitern diene dem Schutz der ca. 2.690 Patienten in ihren Kliniken. Bei Zusammenkünften des Gesamtbetriebsrates potenziere sich das Risiko. Bei nur einer positiven Infektion könne es in der Folge zu Quarantänemaßnahmen in 30 Betrieben bis hin zum Aufnahmestopp kommen. Für die geltend gemachte Befriedigungsverfügung bestünde kein Verfügungsgrund. Die Nachteile, die der Arbeitgeberin drohten, würden die Interessen des Gesamtbetriebsrats eindeutig überwiegen.

Mit Beschluss vom 7.8.2020 hat das Arbeitsgericht Regensburg die Anträge zurückgewiesen (Beschl. v. 7.12.2020 – 2 BVGa 7/20). Zur Begründung hat es ausgeführt: Für den Antrag auf Unterlassung einer Untersagung von Präsenzsitzungen überhaupt fehle es an einem Verfügungsgrund. Der Antrag gehe über die konkret bevorstehende Sitzung hinaus. Die Klärung müsse einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Hilfsantrag gerichtet auf die konkret bevorstehende Sitzung sei unbegründet. Die Organisationsgewalt des Gesamtbetriebsrats für die Durchführung der Sitzung werde im Rahmen der durchzuführenden Interessenabwägung durch den als höherwertig anzusehenden Gesundheitsschutz verdrängt. Gegen diesen Beschluss hat der Gesamtbetriebsrat Beschwerde eingelegt.

II. Die Entscheidung

Auf die zulässige Beschwerde hin hat das LAG den im Beschwerdeverfahren neu anhängig gemachten Anträgen teilweise stattgegeben. Bei der Zurückweisung des Antrags, die Untersagung von Präsenzsitzungen generell zu unterlassen, verbleibt es hiernach. Das LAG war der Auffassung, die Voraussetzungen für die Unterlassungsverfügung gegen die Arbeitgeberin, nicht die Sitzungen von Gesamtbetriebsausschuss und Gesamtbetriebsrat im September zu untersagen, seien gegeben. Er folge aus § 78 S. 1 BetrVG.

Durchführung der Sitzungen und Teilnahme daran zählten zu der geschützten Tätigkeit der Gesamtbetriebsratsmitglieder. Die Untersagung der Sitzung sei eine Störung und Behinderung der Betriebsratsarbeit. Die Untersagung könne Unsicherheiten über die Zulässigkeit der Sitzungstätigkeit und die diesbezüglichen Befugnisse der Arbeitgeberin begründen. Es bestehe zudem die Gefahr, dass Mitglieder im Hinblick auf die Untersagung nicht an der Sitzung teilnähmen. Für die Sitzung des Gesamtbetriebsratsausschusses gelte Entsprechendes. Der Gesamtbetriebsrat müsse auch im Hinblick auf die angesetzten Wahlen die für September geplante Sitzung als Präsenzsitzung durchführen und könne nicht auf die Durchführung als Telefonkonferenz oder Videokonferenz ausweichen. Der von der Arbeitgeberin herangezogene Anspruch auf Durchführung als Video- oder Telefonkonferenz könne daher nicht bestehen.

Offenbleiben könne, ob aus der in § 129 BetrVG geregelten Möglichkeit von Video- oder Telefonkonferenz bei Hinzutreten besonderer Umstände eine Verpflichtung der Arbeitnehmervertretungskonferenzen folgen könne, Sitzungen unter Nutzung dieser Formen durchzuführen. Voraussetzung würde jedenfalls sein, dass überhaupt die Möglichkeit bestehe, die für die Sitzung angesetzten Tagesordnungspunkte im Rahmen einer solchen Konferenz durchzuführen. Vorliegend sei das im Hinblick auf die angesetzten Wahlen einer oder eines stellvertretenden Vorsitzenden nicht der Fall. Auf Wahlen finde der § 129 BetrVG keine Anwendung. Insbesondere sei nicht sichergestellt, wie eine geheime Stimmabgabe bzw. eine Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgen sollten.

Der Gesamtbetriebsrat könne auch nicht auf eine Briefwahl verwiesen werden. Aus dem Gesetz sei nicht ersichtlich, dass die in Rede stehenden Wahlen als Briefwahl durchgeführt werden könnten. Bei einer Briefwahl würden nicht die anwesenden Mitglieder des Gesamtbetriebsrats wählen. Grundsätzlich gehe das Betriebsverfassungsgesetz aber von der Beschlussfassung durch die anwesenden Mitglieder der Arbeitnehmervertretung aus, § 33 Abs. 1 S. 1 BetrVG.

Schließlich sei das Weisungsrecht der Arbeitgeberin aus § 106 GewO keine Grundlage, die Teilnahme an der Präsenzsitzung zu untersagen. Mitglieder des Gesamtbetriebsrates habe die Arbeitgeberin für die Sitzungsteilnahme von ihrer beruflichen Tätigkeit zu befreien, §§ 37 Abs. 2, 51 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Weisungen zum Arbeitsverhalten beträfen nicht die Sitzungsteilnahme von Betriebsratsmitgliedern.

III. Der Praxistipp

Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg enthält im Hinblick auf die Frage, ob Arbeitgeber unter bestimmten Voraussetzungen auf eine digitale Durchführung von Betriebsratssitzungen bestehen können, keine klare Aussage. Nur für den Fall, dass ein Tagesordnungspunkt zwingend die Präsenz erfordere, hat sich das LAG festgelegt und entschieden, dass der Arbeitgeber zumindest dann nicht auf einer virtuellen Durchführung bestehen könne. Umgekehrt hat es durch das Offenlassen im Hinblick auf „normale“ Sitzungen auch deutlich gemacht, dass ein solcher Anspruch des Arbeitgebers sich durchaus aus der örtlichen Pandemiesituation und Gefährdungslage ergeben könne.

Der Betriebsrat muss bei der Festlegung seiner Sitzungen als Präsenz- oder Digitalsitzung eine Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz einerseits und der ordnungsgemäßen Erledigung seiner Aufgaben andererseits abwägen. Dabei muss er auch die geltenden Verordnungen in Bezug auf die Corona-Pandemie beachten. Im Einzelfall kann dann das Ermessen des Betriebsrates so eingeschränkt sein, dass eine Durchführung als Präsenzsitzung nicht in Betracht kommt. Der Arbeitgeber kann dann vom Betriebsrat die Durchführung als Digitalsitzung verlangen.

Arbeitgeber sollten im Hinblick auf diese Frage idealerweise mit dem Betriebsrat Regeln abstimmen, ab welcher Gefährdungsschwelle Sitzungen virtuell durchzuführen sind, sofern die zu behandelnden Themen dies gestatten. Taugliche Kriterien könnten hier einmal die besondere betriebliche Situation sein (z.B. Infektionsfälle in der Belegschaft, Verbreitungspotential auch über mehrere Betriebe, drohender Schaden bei Ausfall größerer Arbeitnehmergruppen etc.), aber auch die Infektionslage in der Region (z.B. Inzidenz im jeweiligen Landkreis). So werden Konflikte über diese Frage von vornherein vermieden.

Sollte es dennoch einmal zum Konflikt hierüber kommen, sollten Arbeitgeber die Untersagung der Präsenzsitzung anhand der dargestellten Kriterien begründen können und wo möglich auch mildere Mittel – z.B. Teilpräsenzsitzungen – in Betracht ziehen.

Jan Peter Schiller, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf

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