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BAG: Kündigungsschutzklage „aus dem Verborgenen“

1. Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift des Rechtmittelführers in einer Rechtsmittelschrift ist keine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Rechtsmittels.

2. Eine Kündigungsschutzklage kann die Frist des § 4 S. 1 KSchG auch dann wahren, wenn der Arbeitnehmer in der Klageschrift seinen Wohnort nicht angibt. Es genügt, wenn die rechtzeitig eingereichte Klageschrift von einer postulationsfähigen Person unterzeichnet ist und aus ihr die Parteien (§ 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), die angefochtene Kündigung (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) sowie der Wille des Arbeitnehmers, die Unwirksamkeit dieser Kündigung gerichtlich feststellen zu lassen, erkennbar sind.

[Redaktionelle Leitsätze]

BAG, Urt. v. 1.10.2020 – 2 AZR 247/20

I. Der Fall

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Er war seit 2000 bei der Beklagten beschäftigt. Er wurde im November 2011 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Am 13.12.2011 erging Haftbefehl gegen ihn, der jedoch nicht vollstreckt werden konnte, da der Kläger sich auf der Flucht befand. Die Beklagte kannte aus einem vorangegangen Kündigungsschutzverfahren lediglich eine Postfachadresse des Klägers. Nachdem sie am 5.1.2012 die Zustimmung des Integrationsamts zu einer außerordentlichen fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien erhielt, versuchte sie, die Kündigungen dort zuzustellen. Dies misslang, da nach Aussage des Postfachbetreibers der Kläger den Vertrag gekündigt und untersagt habe, seine Post noch anzunehmen. Eine Anfrage beim Prozessbevollmächtigten aus dem Vorverfahren, ob dieser empfangsbevollmächtigt sei, beantwortete dieser nicht. Der Kläger erhob am 27.1.2012 Kündigungsschutzklage gegen eine auf den Zustimmungsbescheid des Integrationsamts vom 5.1.2012 gestützte außerordentliche und ordentliche Kündigung. Angeblich sei versucht worden, ihm am 10.1.2012 Kündigungen zugehen zu lassen. In der Kündigungsschutzklage war erneut die Anschrift der gekündigten Postfachadresse angegeben. Am 20.2.2012 gelang es der Beklagten schließlich, dem Kläger die auf den 10.1.2012 datierte außerordentliche fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung an einer von ihm zwischenzeitlich angegebenen anderen Postfachadresse zugehen zu lassen.

Im Kammertermin erteilte das ArbG dem Kläger den Hinweis, dass die Zulässigkeit der Klage die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraussetze und er nicht nur von Postfachadressen aus prozessieren dürfe. Sie setzte dem Kläger eine Frist zur Angabe seiner Wohnadresse, die dieser jedoch verstreichen ließ. Erst im Termin am 13.6.2013 ließ er über einen Prozessbevollmächtigten seine Wohnadresse mitteilen. Der Kläger führte an, er habe von Postfachadressen aus prozessieren dürfen, weil er seinerzeit mit Haftbefehl gesucht worden sei.

Das ArbG Frankfurt am Main wies die Klage als unzulässig ab (Urt. v. 13.6.2013 – 21 Ca 663/12). Das LAG Hessen gab ihr hingegen statt (Urt. v. 4.3.2020 – 18 Sa 1443/15).

II. Die Entscheidung

Die Revision führt zur Bestätigung des zweitinstanzlichen Urteils. Nach Auffassung des 4. Senates ist es unschädlich, dass der Kläger in seiner Kündigungsschutzklage entgegen § 253 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO seinen Wohnort nicht angegeben habe. Es könne dahinstehen, ob ausnahmsweise ein schützenswertes Interesse an der unterlassenen Angabe seines Wohnorts gegeben sei, weil er sich der konkreten Gefahr einer Verhaftung ausgesetzt hätte. Auch bedürfe es keiner Entscheidung, ob das ArbG die erst im Kammertermin mitgeteilte Angabe des Wohnorts als verspätet zurückweisen dürfte. Allerdings sei zweifelhaft, ob die Verspätungsvorschriften insoweit Anwendung finden. Jedenfalls sei der Wohnort des Klägers im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im zweiten Rechtszug unstreitig gewesen. Unstreitiges Vorbringen sei vom Berufungsgericht selbst dann zuzulassen, wenn das erstinstanzlich wirksam zurückgewiesen worden sei sollte.

§ 4 KSchG verlange im Übrigen nicht, dass nur eine in allen Punkten den zivilprozessualen Vorgaben genügende Klageerhebung die Klagefrist wahrt. Auch unzulässige Klagen können zur Fristwahrung ausreichen. Eine wirksame Klageerhebung liege vor, wenn die Klage die sich aus § 253 ZPO ergebenden Mindestvoraussetzungen erfülle. Den Anforderungen von § 4 S. 1 KSchG sei Genüge getan, wenn die Klage dem Arbeitgeber fristgerecht Klarheit verschaffe, ob der Arbeitnehmer eine bestimmte Kündigung hinnehme oder aber ihre Unwirksamkeit gerichtlich geltend machen wolle. Dementsprechend sei die Dreiwochenfrist gewahrt, sofern sich aus der Klageschrift die Parteien, die angefochtene Kündigung sowie der Wille des Arbeitnehmers ergebe, die Unwirksamkeit der Kündigung gerichtlich feststellen zu lassen, ergebe. Demgegenüber seien die in §§ 130 Nr. 1 bis Nr. 5 ZPO bestimmten Angaben – also auch die Angabe des Wohnorts in § 130 Nr. 1 ZPO – keine Mindestanforderungen an eine wirksame Klageerhebung.

Die Kündigungsschutzklage sei auch begründet. Die außerordentliche fristlose Kündigung sei unwirksam, da die bevorstehende Strafhaft des Klägers keinen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB für eine außerordentliche fristlose Kündigung bilde. Die ordentliche Kündigung sei bereits deswegen unwirksam, da sie außerhalb der Monatsfrist des § 88 Abs. 3 SGB IX a.F. (nun § 171 Abs. 3 SGB IX) zugegangen sei.

Der Kläger müsste sich auch nicht nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als sei die ihm erst am 20.2.2012 zugegangene Kündigung bereits am 10.1.2012 zugegangen. Eine solche Fiktion komme nur dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber nach dem gescheiterten Zustellversuch unverzüglich alles ihm Zumutbare unternehme, um dem Kläger die Kündigung doch zugehen zu lassen. Das Berufungsgericht habe frei von Rechtsfehlern festgestellt, dass die Beklagte derartige Bemühungen nicht rechtzeitig unternommen habe.

III. Der Praxistipp

Der kuriose Sachverhalt sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das BAG über eine recht praxisrelevante Konstellation zu entscheiden hatte. Es kommt gar nicht so selten vor, dass die Zustellung einer Kündigung an der der Personalabteilung bekannten Anschrift des Arbeitnehmers nicht möglich ist. Ist der Arbeitnehmer auch sonst nicht greifbar, stellt sich aus Arbeitgebersicht die Frage, wie er sonst die Zustellung der Kündigung bewirken kann. Ist die Kündigung fristgebunden – etwa wegen der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB oder wie vorliegend der Erklärungsfrist des § 171 Abs. 3 SGB IX – ist regelmäßig Eile geboten. Auch wenn der Arbeitnehmer sich treuwidrig verhält, weil er – wie hier – seine Wohnanschrift nicht einmal im Kündigungsschutzprozess offenbaren will, obliegt es dem Arbeitgeber, unverzüglich alles Zumutbare zu tun, um dem Arbeitnehmer die Kündigung doch noch zuzustellen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hatte die Beklagte dies unterlassen, denn sie hatte verkannt, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers empfangsbevollmächtigt war und die Kündigung bei diesem hätte zugestellt werden können.

Der 2. Senat geht sogar noch einen Schritt weiter und ist der Auffassung, dass die beabsichtigte ordentliche Kündigung dem Prozessbevollmächtigten des Klägers auch ohne Rückfrage hätte zugestellt werden müssen, wenn deren Zugang auf den 10.1.2012 hätte zurückbezogen werden sollen. Dies birgt letztlich auch ein nicht gering zu schätzendes Haftungsrisiko.

Als schwacher Trost verbleibt für die Beklagte, dass während der Strafhaft des Klägers zumindest kein Annahmeverzugslohn geschuldet ist.

Ulrich Kortmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

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