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BAG: Außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds

1. Endet der Sonderkündigungsschutz eines Betriebsratsmitglieds während eines laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens, muss der Arbeitgeber analog § 174 Abs. 5 SGB IX die außerordentliche Kündigung unverzüglich nach Kenntnis von der Beendigung des Sonderkündigungsschutzes erklären.

2. Erklärt der Arbeitgeber während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens (§ 103 Abs. 2 BetrVG) gegenüber dem Betriebsratsmitglied eine wegen fehlender Zustimmung unwirksame Kündigung, so lässt eine solche Kündigung für sich genommen das Zustimmungsersetzungsverfahren unberührt.

3. Solange der Arbeitgeber das Zustimmungsersetzungsverfahren weiterführt, kommt auch ein „Verbrauch“ der Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG durch den Ausspruch einer solchen Kündigung nicht in Betracht.

[Redaktionelle Leitsätze]

[BAG], Urt. v. 1.10.2020 – 2 AZR 238/20

I. Der Fall

Die Arbeitgeberin beantragte mit Schreiben vom 30.4.2018 beim Betriebsrat die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers, der Mitglied des Betriebsrats war. Mit Schreiben vom 2.5.2018 verweigerte der Betriebsrat seine Zustimmung. Hierauf leitete die Arbeitgeberin am 4.5.2018 ein Zustimmungsersetzungsverfahren vor dem Arbeitsgericht ein. Mit Schreiben vom 4.5.2018 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos. Es steht rechtskräftig fest, dass diese Kündigung unwirksam ist. Mit Schreiben vom 9.5.2018 hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat „vorsorglich erneut“ zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses an und beantragte dessen Zustimmung. Mit Schreiben vom 14.5.2018 verweigerte der Betriebsrat auch dieser Kündigung seine Zustimmung. Spätestens am 14.5.2018 endete regulär die Mitgliedschaft des Klägers im Betriebsrat. Am Folgetag kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis erneut außerordentlich und fristlos.

Die Kündigungsschutzklage war in erster Instanz erfolglos. In zweiter Instanz gab das Berufungsgericht der Klage statt. Das LAG Hessen nahm hierbei an, die außerordentliche fristlose Kündigung vom 15.5.2018 sei rechtsunwirksam, da die Arbeitgeberin die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt habe. Diese Frist habe spätestens am 14.5.2018 geendet. Das am 4.5.2018 eingeleitete Zustimmungsersetzungsverfahren ändere nichts am Fristablauf. Dieses Verfahren vom 30.4.2018 sei durch die Kündigung vom 4.5.2018 „gegenstandslos“ geworden.

II. Die Entscheidung

Die Revision führte zur Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und zur Zurücküberweisung an das LAG. Nach Auffassung des 2. Senats sei nicht ausgeschlossen, dass der Arbeitgeber die außerordentliche Kündigung vom 15.5.2018 rechtzeitig erklärt habe.

Grundsätzlich könnte die Kündigung eines Amtsträgers auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach der rechtskräftigen Ersetzung der Zustimmung des Arbeitsgerichts erklärt werde. Entfalle der Sonderkündigungsschutz des Amtsträgers während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens, müsse der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich aussprechen, wenn er hiervon Kenntnis erlangt habe. Dies ergebe sich aus einer analogen Anwendung des § 174 Abs. 5 SGB IX, die den unverzüglichen Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nach erteilter Zustimmung des Integrationsamtes vorsehe.

Soweit ein Arbeitgeber während eines laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens eine (vorsorgliche) außerordentliche Kündigung erkläre, führe dies nicht dazu, dass das Zustimmungsersetzungsverfahren gegenstandslos werde. Regelmäßig sei davon auszugehen, dass eine solche Kündigung lediglich vorsorglich erfolge. Eine solche vorsorgliche Kündigung führe auch nicht zum „Verbrauch“ der Anhörung gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG. Indem der Arbeitgeber nämlich sein Ersuchen um Zustimmung gegenüber dem Betriebsrat aufrechterhalte und das gerichtliche Zustimmungsersetzungsverfahren fortführe, sei hierin eine erneute Anhörung zu sehen. Einer weiteren förmlichen Anhörung bedürfe es nicht. Da das LAG keine Feststellungen zum Kündigungsgrund getroffen hatte, wurde die Sache an das LAG zurückverwiesen.

III. Der Praxistipp

Der form- und fristgerechte Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gegenüber einem Betriebsratsmitglied bleibt eine komplexe und fehlerträchtige Angelegenheit. Sobald ein Arbeitgeber Kenntnis von einem Kündigungsgrund erhält, ist Eile geboten. Er muss innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrundes nicht nur den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung beim Betriebsrat stellen, sondern im Falle der Verweigerung der Zustimmung auch das Zustimmungsersetzungsverfahren beim Arbeitsgericht einleiten.

Heikel wird die Angelegenheit, wenn das Erfordernis einer Zustimmung im laufenden Zustimmungsersetzungsverfahren fortfällt. Dies kann der Fall sein, wenn das Betriebsratsmitglied auf sein Amt verzichtet oder – wie im vorliegenden Fall – die Amtszeit endet. Der genaue Zeitpunkt des Fortfalls dieses Sonderkündigungsschutzes lässt sich häufig nur schwer bestimmen. Besonders diffizil ist dies im Fall eines Ersatzmitglieds, welches nur für die Dauer eines Verhinderungsfalles in den Betriebsrat nachrückt und mit dem Ende des Verhinderungsfalles seinen besonderen Kündigungsschutz als Amtsträger wieder verliert. Fällt der Sonderkündigungsschutz weg und erfährt der Arbeitgeber hiervon, muss er „unverzüglich“ die Kündigung aussprechen.

Man kann es dem Arbeitgeber daher nicht verdenken, dass er in einem solchen Fall lieber einmal zu viel als einmal zu wenig kündigt. Das BAG stellt in dieser Entscheidung klar, dass ein Arbeitgeber in einem solchen Fall „gefahrlos“ mehrfach kündigen kann. Ausdrücklich verweist der Senat darauf, dass seine gegenteilige Rechtsprechung, zuletzt Urt. v. 24.10.1996 – 2 AZR 3/96 – bereits mit Urt. v. 27.1.2011 – 2 ABR 114/09 – aufgehoben wurde, was sich jedoch wohl noch nicht bis zum Berufungsgericht herumgesprochen hatte. Es schadet gleichwohl sicherlich nicht, wenn der Arbeitgeber parallel zum Ausspruch einer vorsorglichen Kündigung klarstellt, dass diese Kündigung das laufende Zustimmungsersetzungsverfahren unberührt lässt.

Ulrich Kortmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

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